Tanz den Nietzsche

Johann Kresnik tanzt in seinem neuen Stück weiter durch die deutsche Geschichte – mit Nietzsche vom protestantischen Pfarrhaus bis Bayreuth  ■ Von Lore Kleinert

„Es wird Kriege geben, wie es auf Erden noch keine gegeben hat“ – mit dieser Prophezeiung Friedrich Nietzsches endet Johann Kresniks Szenenfolge am Schauspielhaus Bremen. Wie ein Untoter hockt der Philosoph mit dem Schnauzbart auf der Metallbrücke hoch über der Bühne und betrachtet seinen Alptraum, den alternden Schönhuber in Damenbegleitung im Fernsehstudio, die im Kreise Marschierenden mit den Deutschland-Fähnchen. Hellsichtig ist dieser Nietzsche selbst im Wahn und über den Tod hinaus.

Am Anfang stand die Zurichtung im Geiste des Protestantismus, die Quälerei. Biedermeierlich schwarz gewandet, bedrohen Männer und Frauen einander und schüchtern den jungen Friedrich und seine Schwester Elisabeth ein, mit dem Zeichen des Kreuzes, das ihnen die Münder verstopft, mit langen Lederriemen. Zusammengeschnürt wie ein Gefolterter, lernt Friedrich schreiben, malt mit dem Stift im Mund Zeichen auf die Wände und den Körper der Schwester. Der Raum Penelope Wehrlis ist turnhallengrün, und die hohen, schrägen Wände kann keiner allein überwinden. Kresnik läßt Tänzer und Tänzerinnen die Wände hochgehen, bis sie stürzen, und das Wüten und Rasen gegen den Rand des grünen Dressurkäfigs wird in dieser Produktion zur Schlüsselbewegung: Wer die Wände hochgeht, verliert immer den Halt und stürzt ab.

Auch ohne die Einschnürung in Lederriemen enden alle Versuche Nietzsches, Menschen näherzukommen, in Qual. Frauen wie Cosima oder Lou Andreas Salomé verlocken ihn und sein angebetetes Denkmal Richard Wagner zu eruptiven Ausbrüchen, doch während der Komponist sich von seiner „guten“ Gesellschaft triumphal einverleiben läßt, trennen Schmerz und Einsamkeit den Philosophen von den einfachen Lösungen ebenso wie vom Glück.

In seiner vorerst letzten Produktion findet Kresnik zu seinen hochkonzentrierten, vieldeutigen Bildern zurück, die die Balance schaffen zwischen dem, was einem einzelnen Menschen geschah, und dem, was daraus entstand. Berge von Papier und staubigen Büchern füllen immer wieder die Bühne, werden immer wieder beiseite geschafft. Nietzsche hebt die Hände von Wagners Bayreuther Bewunderern zum Hitlergruß, schlägt ihnen die langen Stangen weg, auf die gestützt sie lehnen, bis sie wieder aufgespießt am Boden liegen. Hastig pflückt er die Kreuze ab, die ein falscher Priester an die Wände hakt, oder versorgt leichtbekleidete Touristenhorden mit gelben Tennisbällen, doch die Götter, die er für tot erklären wollte, wird er nicht los. Zwei schneeweiße Riesenpenisse an der Rückwand der Bühne werden, wenn sie rotieren, zum wirbeligen Eingang einer Autowaschstraße. Wer dieses Reinlichkeitsritual übersteht, kann die Haltung wahren, weil störende Gefühle eliminiert sind, oder wird – wie Nietzsche – verrückt. Naiv und freundlich, ein großes Kind im weißen, beschmutzten Hemd, tastet er sich noch einmal an der Wand entlang, versorgt von der Mutter, verfolgt von Schwester Elisabeth, die gemeinsam mit dem Antisemiten Förster in Paraguay ein rassereines Utopia zu errichten versuchte.

Das deutsche Genie als Kranker, als Hanswurst: wieder beschwört der Choreograph Hitler und Mussolini als Doppelwesen, doch anders; die fast nackten Männerköper sind mit rotem Latex an den Köpfen verbunden, blind und blutig, und wenn sie ihre Dolche schwingen, lassen die TänzerInnen in den Soldatenmänteln Kinderrasseln klappern. Als die Deutschen, schrieb Nietzsche, ihre Bildung abgeschüttelt hatten, „wußten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen als den politischen und nationalen Wahnsinn“.

Kresnik schlägt große, überschaubare Schneisen in die Geschichte. Damit seine Bilderfülle nicht unter der Last politischer Eindeutigkeiten aufgezehrt wird, bedarf sein Theater der Komplexität realen Lebens. Seinem Geschöpf „Nietzsche“ gelingt, was ihm in den politischen Provokationen „Wendewut“ und „Rosa Luxemburg“ verlorenzugehen drohte: mit den Körpern der TänzerInnen politische Zeichen zu setzen, unterstützt durch die mächtigen, vieldeutigen Klangcollagen Kurt Schwertsigs, die vom Publikum entschlüsselt werden wollen. „Nietzsche“ entwickelt den Wahnsinn, den die Gewalt in menschliche Körper eingräbt, gespenstisch leise, fast anrührend in seiner rasenden Produktivität, unheimlich nah in der Ausweglosigkeit seiner Anstrengungen.

„Ich bin ein Verhängnis“, heißt es in Nietzsches Selbstbiographie „Ecce Homo“. In den Stationen seines Lebens, vom protestantischen Elternhaus bis zum Ausverkauf seiner Ideen, spürt das Tanztheater die Schicht auf, die sein Verhängnis mit unserem verbindet: Gewalt, nicht in Stein, sondern in Papier gefaßt, nicht nur in Papier, sondern in Mauern, eingebrannt in den Leib.

Am Ende zieht die geliebte und gehaßte Schwester Nietzsche die Haut selbst ab und verkauft sie den Verlegern; ewiges Leben ist ihm sicher: „Alles verletzt. Mensch und Ding kommen zudringlich nahe, die Erlebnisse treffen zu tief, die Erinnerung ist eine eiternde Wunde.“ Lore Kleinert

Nächste Vorstellungen: 23., 27. und 29.4.; 15. und 23.5., 20 Uhr