Nachschlag

■ „Ein Tango“ – Swinda Reichelts Tanztheater im „Juks“

Es war der erste laue Vorsommerabend und kein einziger Platz mehr frei an den Café-Tischen rund um den Kollwitzplatz. Viel zu warm, um in einer Aula auf dem Boden zu hocken. Hundert Leute waren in die Schule an der Schönhauser Allee gekommen, und innerhalb von Minuten war die Luft in dem Saal stickig.

„Ein Tango“ hieß das „Theaterstück“, eigentlich eine Weltreise. Swinda Reichelt hatte am Wochenende ins „Juks“ geladen, U-Bf. Senefelderplatz (U2). Swinda muß richtig glücklich gewesen sein an diesem Abend. Nach der Premiere habe ich sie nur noch erschöpft – aber zufrieden – auf einer Couch im „Ackerkeller“ sich räkeln sehen. Swinda macht Mode. Eigentlich. Vor zwei Jahren ungefähr muß es gewesen sein, da hatte sie die Lust – und die Idee – zu einem Theaterstück.

Swinda hat alles selber gemacht: die 24 Leute ausgesucht, die zwischen den am Boden hockenden Leuten spielten und tanzten und Lampen irrlichtern ließen; die Kostüme entworfen, den spröden Text ausgedacht, den sie mit einer Freundin spricht, als wären sie nur Zuschauerinnen.

Der ganze Abend hatte etwas von einer Schülervollversammlung: Er begann verspätet, und als er anfing, wußte man erst gar nicht, was passiert. Aus allen vier Ecken kamen Kapuzenmenschen, ein bißchen Ku-Klux-Klan, ein bißchen katholische Osterprozession in Spanien. Sie liefen, und wir mußten ihnen Platz machen, Klapperschlangengeklapper als Musikersatz.

Noch nie war ein Programmheft so ehrlich: wenn wir ratlos sind und nicht einordnen können, gucken wir drauf, und da steht: „Ein Versuch. Ein Angebot. Eine Frage.“ Wie bescheiden. Geboten werden zuallererst ein wunderschöner Mann und eine wunderschöne Frau, die eine ganz seltsame Frisur trägt. Sie verbirgt ihr Gesicht hinter einem Vorhang aus Locken.

Die beiden tanzen, jeder für sich, zaghaft oft, manchmal ein bißchen dezidierter, Tango. Sie wiegt ihre Hüften, er nimmt ein Holzgestell zur Partnerin! Nie tanzen sie miteinander, und nichts wünscht man sich sehnlicher. Erst ganz zum Schluß, wenn wir alle Hoffnung schon aufgegeben haben und der Halbmond nicht mehr blau, sondern rot leuchtet, nehmen sie sich in die Arme.

Bis dahin haben wir die halbe Welt geographisch abgegrast. Swinda zeigt uns eine unendliche Geschichte mit einem Schuß Disneyland, einer Prise Jurassic Park und Little Buddha und Pariser Prêt-à-porter. All diese Kostüme!

Swindas dramaturgische Lizenz ist ein Freibrief zum Experimentieren. Dieser Lizenz ist alles untergeordnet: Alles muß und darf irrsinnig und pompös sein. Das narzißtische Duschbad des Tangotänzers vor einer Spiegelwand, die panische Flucht der Frau mit erhobener Faust, das Ringen der zwei nackten Scherenschnitte, die Lumpensammler und Kordelfratzen, die goldenen Urwald-Monster. Alle, alle, alle suchen – na, was wohl – und finden es und sich nicht, bleiben für sich, und also einsam. Dieses Schablonendrehbuch hat auch Swinda als Vorlage sich ausgesucht. Aber eine Geisterbahnfahrt draus gemacht. Eine zuweilen höllisch kitschige, meist aber eine, die ihren Sinn erfüllt: Man hockt da und staunt. Mit offenem Mund. Thorsten Schmitz

Im Sommer wird das Stück im Tacheles zu sehen sein.