Die Türkei muß den IWF um Hilfe bitten

■ Ministerpräsidentin Çiller will die Wirtschaftskrise mit Privatisierungen lösen

Istanbul (taz) – Kaum hatte Premeierministerin Tansu Çiller ein Wirtschafts-Stabilisierungsprogramm verkündet, mußten viele TürkInnen feststellen, daß das gefeierte Paket in Wirklichkeit nur aus einer Reihe von Preiserhöhungen und Entlassungen bestand. Çiller hatte am 5. April verkündet, sie wolle das Budgetdefizit von 47,6 Billionen türkischen Pfund auf 9,3 Billionen senken: mit zusätzlichen Steuern und der Schließung oder Privatisierung von 235 defizitären Staatsbetrieben sowie der Dämpfung der Inflationsrate, die gegenwärtig bei 73 Prozent liegt und auf eine dreistellige Zahl zusteuert. Die erste Show veranstalteten die Parlamentsabgeordneten – in einer theatralischen Geste stifteten einige ihre Bezüge dem Staat. Allerdings werden nicht die Abgeordneten von dem Sparpaket betroffen sein, sondern die Arbeiter. Mindestens 76.000 Arbeitsplätze entfallen in jenen Staatsbetrieben, die bis Ende des Jahres geschlossen werden sollen. Der Führer der größten Gewerkschaft Türk-yf, Bayram Meral, warnte die Regierung vor Unruhen, falls sämtliche Lasten der Krise den Arbeitnehmern aufgebürdet werden sollten.

Die bittere Medizin zeigte schnell Wirkung. Eine Welle von Preiserhöhungen senkte die Kaufkraft um fast fünfzig Prozent. Die Leute fahren nicht mehr Taxi, sondern Bus oder gehen zu Fuß. Die Zahl der Autos auf den Brücken zwischen dem asiatischen und dem europäischen Teil Istanbuls nahm ab, weil die Brückengebühr um etwa 120 Prozent erhöht wurde; der Benzinpreis stieg um 50 bis 80 Prozent. Die meisten Leute sind inzwischen von ausländischen auf einheimische Zigaretten umgestiegen. Der private Sektor leidet unter Auftragsmangel. Das Nachtleben in Istanbuls Vergnügungsviertel Beyoglu hat seine Anziehungskraft verloren.

Mit Demonstrationen in vielen Landesteilen kündigt sich soziale Unruhe an. Arbeiter in den Bergwerken von Zonguldak und der Eisen- und Stahlbetriebe in Karabük an der Schwarzmeerküste, die auf der schwarzen Liste des Pakets an vorderster Stelle stehen, protestieren. Sie warfen der Regierung vor, die Betriebe ihrem Schicksal zu überlassen, anstatt neue Investitionen zu tätigen. Außerdem fehle dem Sparpaket ein Zeitplan.

Was die zusätzlichen Steuern angeht, sagte Çiller, seien Gesetze in Arbeit. Mindestens einen Monat dürfte es dauern, bis sie im Parlament verabschiedet werden können. Die beiden großen Wirtschaftsbosse Sakip Sabanci und Vehbi Koc sind unzufrieden und riefen Präsident Süleyman Demirel informell dazu auf, die Kontrolle über die Wirtschaft zu übernehmen. Die Krise ist jedoch tatsächlich eine Erbschaft Demirels. Unter Çiller ist sie lediglich verschlimmert worden.

Die Devisenreserven der Zentralbank sanken in den letzten vier Monaten von sieben auf drei Milliarden Dollar. Der Dollar stieg seit letztem Jahr von 14.500 auf 35.000 türkische Pfund. Nachdem Anfang dieses Jahres die Kreditfähigkeit durch die Rating-Agenturen Standard&Poor's und Moody's heruntergestuft woren war, fällt es der Türkei erheblich schwerer, im Ausland Kredite aufzunehmen.

Die Weltbank hatte die Regierung bereits 1988 gewarnt. Schließlich erzwang die Rezession die strenge Kontrolle des IWF. Nach ihrem letzten US-Besuch erklärte Çiller, sie habe sich grundsätzlich mit IWF-Direktor Michel Camdessus auf einen Beistandskredit geeinigt. Ein IWF-Delegierter werde nach Ankara kommen, um die entsprechenden Verträge zu unterzeichnen. Die Vereinbarung mit dem IWF könnte die Regierung die Macht kosten – dies war bisher immer das Schicksal der Regierungen, die Hilfsvereinbarungen mit dem IWF unterzeichneten. Die angestrebte Vereinbarung mit dem IWF wird die fünfte in der Geschichte der Republik sein. Die letzte blieb sechs Jahre lang gültig, von 1979 bis 1985. Nükte Devrim