Die Götter wohnen im Internet

■ Bremer Computerkids nehmen über den Unirechner an weltweiten Abenteuerspielen teil / Die Uni duldet es

Manchmal kommt es schon ganz schön dick. Da treffen Sie in der Kemenate auf Trigger, Sissi, Israya, Subwoofer und Flatsch, den irren Druiden, und plötzlich sind die Türen alle zu, die Prinzessin fällt zu Boden und schreit, und ein Windstoß aus dem Ungefähr bläst die Fackeln aus. Da ist guter Rat teuer, man muß sich besprechen, und im Lauf des Palavers wird in etwa herauskommen, daß „Sissi“ in Wirklichkeit gerade in Iowa sitzt, wo sie Informatik studiert, daß „Trigger“ in Bremen Gebrauchtwagen verkauft und abends gerne ein Spielchen an seinem PC macht wie jetzt eben und daß Israya sich von Neuseeland aus eingeschaltet hat und schon seit vier Stunden hilflos im Schloß herumtappt.

So geht es zu in den vielen „MUDs“, die derzeit in aller Welt gespielt werden. Jede Menge Leute steuern imaginäre Gestalten zur gleichen Zeit durch die gleichen zauberischen Welten voller Ritter, Monster, Äbtissinnen, durch geheime Bibliotheken und unsägliche Gefahren, und nie weiß man, was als nächstes passiert und wen man noch alles trifft.

„MUD“ heißt soviel wie „Multiple User Dungeon“; so nennt man Spiele, an denen gleichzeitig hunderte von Usern von ihrem heimischen PC aus teilnehmen können. Die einzige Bedingung ist, daß sie Zugang zum weltumspannenden „Internet“ haben.Dazu muß man sagen, daß ein jedes MUD irgendwo auf einem schnellen Unicomputer läuft; das geht nicht anders wegen der Rechnerleistung, die dazu vonnöten ist. Weil aber alle Unirechner über das Internet miteinander verbunden sind, stehen einem, sobald man im Internet ist, alle MUDs auf Erden offen. Das sind nicht eben wenige: Die neueste im Netz kursierende Liste weist weltweit 250 dieser Online-Spiele auf.

Es wäre also beispielweise für Israya aus Neuseeland ein leichtes, sich in Bremen einzuloggen und bei dem MUD namens „Realm of Magic“ mitzumischen, welches seit dem vergangenen Herbst auf dem hiesigen Unirechner installiert ist. Der Informatikstudent Jani Fikuras, einer der Weltengründer, weiß von zehn bis fünfzehn Spielern, die im Schnitt zugleich durch die Spielwelt wuseln; am Wochenende können's auch mal 50 sein.

Damit gehört das „Realm of Magic“ noch zu den kleineren MUDs; bei den größten kommen schon mal 200 Leute auf einem Haufen zusammen. Das kann man sich durchaus als lärmendes Gedränge auf dem Bildschirm vorstellen, wenn auch alles nur in Textform durcheinanderschnattert.

Das typische MUD funktioniert als Text-Adventure: Das ist nichts anderes als ein Computerprogramm, welches eine „Welt“ aus lauter Text simuliert (siehe den Kasten). Man kommt durch Räume, die der Reihe nach beschrieben werden mit allem, was sie enthalten, man wird von Mitspielern „angesprochen“, und man kann „handeln“, indem man einfache Sätze eingibt: „Gehe in den Keller hinunter“, dann „Was siehst du jetzt?“, dann „Flüstere Sissi zu: Wie sollen wir hier je wieder rausfinden?“ und so fort. Der Befehlswortschatz ist recht beachtlich, er enthält auch das Entmannen, das Rülpsen, das Zähneknirschen, Kitzeln, Würgen, Umarmen und Knutschen. Und sagen kann man sich ohnehin alles.

Die Szene mit der schreienden Prinzessin könnte ungefähr so weitergehen: Man tippt ein: „Gib ihr Wasser“, aber sofort brüllt Sissi aus Iowa: „Mensch, bloß nicht, ich hab hier seit drei Tagen nur vergiftete Quellen gefunden!“, und schon fallen die andern ein und wissen auch was zu berichten, natürlich auf Englisch. Das ist die Verkehrssprache der MUDs, wenngleich es auch schon zwei deutschsprachige gibt. Man sieht aber jedenfalls: Diese Welten sind so komplex, daß man unentwegt miteinander reden muß, wenn man durchkommen will.

Kämpfe sind dennoch nicht ausgeschlossen, es wollen schon auch zahllose Monster zerstückelt werden. Da heißt es dann tippen wie verrückt, was meistens auch gilt, wenn es zu virtuellem Sex zwischen zwei oder mehreren Spielfiguren kommt. Alles das kann aber auch zu Enttäuschungen führen, weil man nie weiß, wer sich hinter der anderen Gestalt verbirgt. Man weiß nicht einmal, ob es ein Mensch ist, denn inzwischen kursieren auch kleine Computerprogramme, die vollautomatisch in den MUDs mitspielen können.

Man sieht: Es kommt da einiges zusammen, mindestens das Virtuelle, das Soziale und die Ehrwürdigkeit des Schriftlichen, in dem sich hier alles repräsentiert bis hin zu dem „Gemischtwarenladen“, in dem man Proviant kaufen kann, oder dem „Rathaus“, in dem die Spieler von Zeit zu Zeit ihr „Parlament“ abhalten.

Der Verlauf des Spiel hängt stark davon ab, was die Teilnehmer draus machen, und gewinnen kann hier wie im Leben außerhalb keiner. Man kann nur Rätsel lösen, Wege finden, Geld und Punkte sammeln. Die Punkte vergibt das Programm von selber, ohne daß jemand das Spiel eigens leiten müßte. Und wenn man die festgelegte Summe beisammen hat, fährt man geradewegs auf in den ersten Himmel der MUDs und wird ein „Wizard“. Als solcher hat man dann alles in der Hand, man kann Schwefel regnen lassen oder neue Räume programmieren, weswegen die MUDs immerzu anwachsen, ja man hat fast so viel Macht wie die „Götter“, die ganz oben thronen, weil sie in der Regel diejenigen sind, die das ganze Spiel aus dem Lehm der Programmiersprachen geschaffen haben.

Im Falle des Bremer MUD „Realm of Magic“ waren es drei Götter um Jani Fikuras, hier „Implementoren“ genannt, und wirklich, es läuft alles, wie sie es vorausbestimmt haben, gesetzt allerdings den Fall, daß die Uni es duldet. Wenn nicht, könnte jederzeit ein Techniker hergehen und das ganze Zauberreich mit der „Delete“-Taste von der Festplatte löschen. Bislang denkt aber niemand dran. „Nur wenn es zu Störungen des wissenschaftlichen Betriebs käme, würden wir das sperren“, sagt Heinz-Ulrich Kirschke vom „Zentrum für Netze und verteilte Datenverarbeitung“. Auch der Informatiker Günther Feldmann weiß, „daß es Leute gibt, die sowas treiben. Aber solang die nicht mit aufwendigen Grafiken die Rechner blockieren, kann's mir egal sein.“

Zudem fallen die Spieler auch kostenmäßig kaum ins Gewicht. Die Uni zahlt jedes Jahr pauschal rund 80.000 Mark für ihren Internet-Anschluß, und damit hat sich's. Daß ein Bruchteil des Datenaufkommens nicht unbedingt der Wissenschaft dient, „das können wir nicht verhindern“, sagt Heinz-Ulrich Kirschke.

An anderen Unis ist es allerdings schon auch vorgekommen, daß die Rechenzentren rabiat geworden sind. Die vielen Spieler würden die Rechner überlasten, hieß es. Selbst Günther Feldmann, dem die Spielereien „unsympathisch“ sind, hält das aber für eine „Schutzbehauptung“. Die beanspruchte Rechenleistung sei minimal, man wolle die Sachen halt nicht überall dulden.

Von diesem Unwillen geht aber auch ein gewisser Evolutionsdruck aus, und tatsächlich bilden sich derzeit die ersten MUDs heraus, die nebenher ganz seriösen Zwecken dienen. Das Stuttgarter „Unitopia“ zum Beispiel enthält eine Computersimulation des Uni-Campus, wo man via PC durch die einzelnen Fachbereiche spazieren kann und nur lehrreiche Dinge erlebt. Manfred Dworschak

nächste Woche an dieser Stelle: ein Gespräch mit den drei Göttern von „Realm of Magic“