■ Die Serben haben sich von Goražde zurückgezogen
: Wie viele Tote benötigt Bihać?

Zweieinhalb Jahre lang hat die internationale Diplomatie den großserbischen Strategen signalisiert, daß auf dem Balkan straffrei erobert, ermordet und vertrieben werden darf. Die Resultate sind bekannt: über 200.000 Tote, über drei Millionen Entwurzelte. Vukovar – wer erinnert sich noch? – ist ein Ruinenfeld, Mostar liegt in Trümmern, die Hotels an der dalmatischen Küste sind voll von Flüchtlingen. Fast zwei Jahre lang wurde Sarajevo beschossen, bis die Vereinten Nationen im Februar unter dem Druck der Weltöffentlichkeit zum erstenmal in diesem Krieg ein gegenteiliges Signal setzten. Die Folge: Heute fahren in der bosnischen Hauptstadt wieder Straßenbahnen, die Gas- und Wasserleitungen werden repariert. Drei Wochen lang wurde die ostbosnische Stadt Goražde mit einem beispiellosen Granathagel belegt, bevor die UNO sich entschließen konnte, auch hier ultimativ mit einer militärischen Intervention zu drohen. Zum zweitenmal mit Erfolg. Die serbischen Belagerer haben sich zurückgezogen. Wird man nun warten, bis die Serben die übrigen UNO-Schutzzonen Bihać, Srebrenica und Zepa beschießen, bis weitere Hunderte von Toten zu beklagen sind, bis Amateurfunker die Weltöffentlichkeit aufrütteln, bevor auch hier die Serben zum Abzug ihrer Geschütze gezwungen werden?

Vor zwei Jahren hätte man mit relativ geringem Risiko relativ viel erreichen können. Heute kommt man mit der hochgradig riskanten Strategie angedrohter Luftschläge dem Frieden kaum einen Schritt näher. Trotzdem war es richtig, die Serben in Goražde zum Abzug zu zwingen. Trotzdem müssen als nächstes nun Bihać, Srebrenica und Zepa gesichert werden. Der Schutz unmittelbar bedrohter Menschen hat sich – fatale Konsequenz der skandalösen Diplomatie – von der Lösung des Konflikts nämlich längst abgekoppelt. Der Frieden kann nicht militärisch erzwungen werden, aber es müssen nun militärische Signale gesetzt werden, um die serbische Logik des trial and error zu durchbrechen, die in Goražde 715 Menschen getötet und wohl doppelt so viele verkrüppelt hat.

Jede weitergehende militärische Intervention setzt allerdings ein Abkommen der intervenierenden Mächte oder mindestens die klare Benennung der Ziele voraus. Vor zweieinhalb Jahren, auf der Londoner Konferenz, war sich die internationale Staatengemeinschaft darüber einig, daß militärisch geschaffene Tatsachen nicht akzeptiert werden, daß die Flüchtlinge ein Recht auf Rückkehr haben und daß die Minderheiten geschützt werden müssen. Konkret: Die serbisch besetzte Krajina gehört zu Kroatien, die Integrität Bosnien-Herzegowinas muß gewahrt bleiben, die Situation der Albaner im Kosovo darf nicht ignoriert werden. Gelten diese Prinzipien noch, oder sind sie obsolet? Wenn sie noch gelten, müßten als erstes die Unterhändler der EG und UNO ausgewechselt werden, die ihrem Mandat so eklatant zuwidergehandelt haben. Gelten sie nicht mehr, hat die bosnische Regierung ein Recht darauf, das zumindest zu erfahren. Nur so kann ein glaubhafter Neuanfang für Friedensverhandlungen gesetzt werden. Im zweiten Fall werden sich die Regierungen der angegriffenen Staaten (Bosnien und Kroatien) überlegen, ob sie die ihnen völkerrechtlich zustehenden Gebiete militärisch zurückerobern oder ob sie auf Dialog setzen. Dann werden Ostslawonien, der nordbosnische Korridor, die Krajina, Sarajevo zur Verhandlungsmasse. Dem Schacher um Land und Leute wären Tür und Tor geöffnet. Thomas Schmid