Nelson Mandela: „Der Beginn einer neuen Ära“

■ Großer Andrang bei den ersten freien Wahlen in Südafrika / Neue Verfassung tritt in Kraft

Berlin (taz) – Wer auch immer Südafrika in den vergangenen Wochen und Monaten den Untergang prophezeit hat, muß sich jetzt getäuscht fühlen. Die ersten freien und allgemeinen Wahlen, die heute zu Ende gehen sollen, ähneln einem Volksfest. Wenn teilweise schon mitten in der Nacht die Menschen Schlange stehen, trotz Bombenhysterie; wenn die Beteiligung offenbar in allen Landesteilen enorm ist, trotz Boykottaufrufen – dann ist nicht übertrieben, was Nelson Mandela gestern früh bei seiner Stimmabgabe in Inanda bei Durban sagte: „Es ist der Beginn einer neuen Ära.“

In diesen Tagen wird das neue Südafrika geboren. Symbolträchtig wurde um Mitternacht zwischen Dienstag und Mittwoch in den Hauptstädten der neun neu geschaffenen Provinzen die alte Flagge eingeholt und die neue gehißt. Die alte Apartheid-Flagge symbolisierte die Eintracht von Buren und Briten, die nach den Burenkriegen geborene Union der Weißen; die neue ist in den Farben Afrikas gehalten, sie ist das Symbol der gesamten südafrikanischen Nation.

Nicht minder symbolträchtig verlor die Burensprache Afrikaans gestern ihren privilegierten Platz im südafrikanischen Staatsfernsehen: Ab jetzt wird das so lange als Herrschaftssprache mißbrauchte Idiom der Trekker auch offiziell als „Minderheitensprache“ mit den Sprachen der Schwarzen gleichgesetzt. Zugleich ist jetzt die neue Verfassung Südafrikas in Kraft getreten, die nun für fünf Jahre, während das neugewählte Parlament die endgültige politische Ordnung des Landes festlegt, den Konsens zwischen Schwarz und Weiß sowie innerhalb beider Lager garantieren wird.

Der Wahlgang selbst erweist sich als identitätsstiftendes Moment. „Mein Leben lang habe ich auf diesen Tag gewartet“, werden überall die schwarzen Erstwähler zitiert. Die gesammelte Erfahrung der Apartheid vereint die Menschen; die gigantischen Wählerschlangen sind dafür Ausdruck. Das Wählen ist ein Akt der Befreiung. Es ist auch ein Akt der Herausforderung gegenüber jenen Tribalisten, schwarz und weiß, die andere zum Wahlboykott aufrufen und doch nur ihre eigene Haut retten wollen. Diese Wahlen, gerade weil jeder Wähler sie als persönliche Erfahrung mitgestaltet, sind der Kern des neuen südafrikanischen Nationalbewußtseins.

Ändern kann daran auch die Autobombe nichts mehr, die gestern früh – kurz nachdem Mandela seine Stimme abgab – am Jan-Smuts-Flughafen in Johannesburg explodierte und sechzehn Menschen verletzte. Auch die hier und dort auftretenden Unregelmäßigkeiten, die wohl mit dem Boykott zu tun haben – der Unabhängigen Wahlkommission zufolge kam es gestern in 277 der über 8.000 Wahlbüros zu „Behinderungen“ –, sind keine Zeichen der Unvollkommenheit. Es ist das übermächtige Bedürfnis der Südafrikaner, endlich wählen gehen zu können, das die bürokratische Wahlmaschinerie hier und da überfordert – vor allem in Natal, wo ja vielerorts Krieg herrscht und wo bis vor einer Woche mit einem aktiven Wahlboykott der Inkatha gerechnet wurde.

Immer mehr Stimmen empfehlen jetzt dort angesichts der Verzögerungen eine Verlängerung des Wahlgangs. Das bedeutet kein Scheitern: Eine verlängerte Wahl soll mehr Menschen die Stimmabgabe ermöglichen; sie ist das Gegenteil einer verhinderten Wahl.

Mandelas Einschätzung zu dieser Wahl gilt: „Es ist die Erfüllung all unserer Hoffnungen und Träume.“ Zwar hat die Arbeit am „neuen Südafrika“ jetzt erst begonnen. Aber das bereits Erreichte ist schon mehr, als auch die größten Optimisten noch vor wenigen Jahren zu träumen gewagt hätten.

Dominic Johnson Tagesthema Seite 3

Essay Seite 10