Zeitgemäßes gegen wilhelminischen Anachronismus

■ Trotz der Entwürfe der Opposition zur Reform des geltenden Staatsangehörig- keitsgesetzes will die CDU/CSU weiterhin am Abstammungsrecht festhalten

In der Beibehaltung des deutschen Abstammungsrechtes feiert einer der letzten wilhelminischen Anachronismen fröhliche Urständ. Dabei war vor 176 Jahren in dieser Frage bereits das preußische Landrecht weit großzügiger: 1818 genügte es für den Erwerb der Staatsangehörigkeit, im Lande geboren zu sein. Auch wer nicht in Preußen geboren war, erwarb die Staatsangehörigkeit durch eine polizeilich erlaubte Wohnsitznahme.

Grundlage des heutigen Staatsbürgerrechts ist dagegen das „Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz“ von 1913. In ihm wird ethnisch homogen der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft durch das Blut- und Abstammungsrecht, das jus sanguinis, festgeschrieben. Staaten wie Frankreich oder Großbritannien dagegen verleihen die Bürgerrechte nach dem jus soli bereits bei Geburt im Staatsgebiet.

Einwanderer in Deutschland sind juristisch betrachtet Einwohner minderen Rechts und keine „ausländischen Mitbürger“, wie manche Politiker gerne floskeln. Um alle Bürgerrechte wie das Wahlrecht oder das Recht auf freie Berufswahl zu erhalten, bleibt ihnen nur die Einbürgerung.

Im Ausländergesetz sind für junge Einwanderer und für solche mit einer Aufenthaltsdauer von über 15 Jahren Regelansprüche auf Einbürgerung festgeschrieben. Für alle anderen – die überwiegende Mehrheit – gelten die penetrant auf Assimilation drängenden Einbürgerungsrichtlinien von 1977 mit ihrem weiten Ermessenspielraum. Eines haben Regel- und Ermessenseinbürgerungen jedoch gemeinsam: Sie verlangen als eine emotionale Hemmschwelle einen Verzicht auf die bisherige Staatsbürgerschaft. Zwar beschlossen CDU/CSU und FDP in ihrer Koalitionsvereinbarung 1991 gar eine „umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts“ bis 1994, verschoben diese dann aber erst vor wenigen Tagen „aus Zeitnot“ auf nächstes Jahr. Auch dann will die CDU/CSU weiterhin am Abstammungsrecht festhalten.

Bei allen Gesetzesinitiativen der letzten Jahre war die Einführung des jus soli und die Hinnahme von Doppelstaatigkeit zentrales Anliegen. Bereits im Dezember 1991 legten Bündnis 90/Die Grünen einen solchen Entwurf vor, der aber innerhalb der Debatte um das Asylgrundrecht 1993 im Bundestag abgelehnt wurde. Unter dem Eindruck der Morde von Mölln folgten im Frühjahr 1993 die Bundesausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP) und die SPD mit ihren Vorstellungen.

Der SPD-Entwurf sieht ab der dritten Generation einen automatisch mit der Geburt erfolgenden Staatsbürgerschaftserwerb vor. Für die hier aufgewachsenen Angehörigen der zweiten Generation sowie für alle anderen Einwanderer, die seit mehr als acht Jahren hier leben, soll ein Einbürgerungsanspruch geschaffen werden. Bereits nach fünf Jahren kann ein Ermessensantrag gestellt werden.

Zwar wurde der Entwurf der Ausländerbeauftragten von ihrer Partei, der FDP, begrüßt, jedoch mochte ihn die Fraktion aus Koalitionstreue nicht übernehmen. So brachte ihn im Juni 1993 der Bundesrat in die Gesetzesdebatte ein. Im Gegensatz zu den Vorstellungen der Sozialdemokraten würden demnach bereits Angehörige der zweiten Generation automatisch mit der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Für alle anderen ist ein Einbürgerungsanspruch nach acht Jahren vorgesehen.

Nach beiden Entwürfen sollen im Gegensatz zum geltenden Recht nichteheliche Kinder mit einem deutschen Vater in Zukunft generell die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten können. Beide Gesetze sehen außerdem die Hinnahme der Doppelstaatigkeit vor. Wo dabei des Volkes Seele sitzt, versuchte bereits im letzten Jahr das „Referendum Doppelte Staatsbürgerschaft“ den Abgeordneten zu vermitteln. Eine Million Menschen mahnten innerhalb kurzer Zeit mit ihrer Unterschrift eine Zustimmung zu den beiden Entwürfen an. Hermann Keßler