„Das deutsche Modell ist sehr erfolgreich“

■ Interview mit der US-amerikanischen Arbeitsmarktspezialistin Eileen Appelbaum über Möglichkeiten, neben den „Mac-Jobs“ gutbezahlte Dienstleistungsarbeit zu schaffen

Eileen Appelbaum ist Professorin für Ökonomie an der Temple Universität und stellvertretende Research-Direktorin am „Economic Policy Institute“ (EPI) in Washington, einem Think Tank, der von US-Arbeitsminister Robert Reich mitbegründet wurde. Mit der Ökonomin Rosemary Batt hat sie kürzlich das Buch „The New American Workplace“ veröffentlicht – eine umfassende Analyse der Transformation von Arbeit in den USA.

taz: Wie kommt es, daß in den USA trotz des Aufschwungs kaum neue, gutbezahlte Arbeitsplätze entstehen? Stehen wir am Beginn einer Ära, in der sich wachsende Produktivität und steigende Beschäftigungszahlen ausschließen?

Eileen Appelbaum: Das stimmt insofern, als wir nicht mehr erwarten können, daß der Produktionssektor die Basis für eine florierende Wirtschaft mit guten Jobs schafft. In den 50er und 60er Jahren war klar: Die Sektoren mit den höchsten Zuwachsraten im Bereich Produktivität waren gleichzeitig die Sektoren mit dem größten Zuwachs an Arbeitsplätzen. Heute werden am meisten Arbeitsplätze in Bereichen mit extrem niedriger Produktivitätsrate geschaffen. Natürlich braucht jede Industriegesellschaft einen stabilen Produktionssektor. Aber der wird nicht mehr für steigende Beschäftigungszahlen sorgen. Arbeitsplätze – und ich meine hier qualifizierte, gutbezahlte Arbeitsplätze – müssen im Dienstleistungsbereich geschaffen werden.

Der Dienstleistungsbereich wird derzeit in den USA aber eher mit Billiglohnjobs im Supermarkt assoziiert als mit gutbezahlten Arbeitsplätzen in neuen High-Tech- Bereichen.

In den USA hat der Dienstleistungssektor zwei Gesichter: Es gibt zum einen Arbeitsplätze im Banken-, Marketing- oder auch im Gesundheitswesen, die hohe Qualifikationen voraussetzen und relativ hohe Einkommen garantieren. Gleichzeitig gibt es jede Menge Jobs in den genannten Bereichen, vor allem im Einzel- und Großhandel, in denen sowohl die Produktivität als auch die Löhne gering sind. Diese Tendenz kann man übrigens auch im Telekommunikationssektor beobachten – einer High-Tech-Industrie, in der enorm viele Jobs mit geringen Qualifikationen und niedrigen Löhnen geschaffen werden. Das hat natürlich auch damit zu tun, daß ein großer Anteil der Beschäftigten Frauen sind.

Wie kann man diesem Prozeß entgegenwirken?

Grob gesagt, gibt es in den USA zwei Modelle der Arbeitsorganisation: Das amerikanische lean production model und das team production model. Man schätzt, daß eine Minderheit der amerikanischen Betriebe, vermutlich rund ein Viertel oder ein Drittel, derzeit ernsthafte Anstrengungen unternimmt, ihre Produktions- und Arbeitsprozesse in der einen oder anderen Weise zu reorganisieren. Das beinhaltet Höherqualifizierung der Arbeitnehmer, Dezentralisierung von Entscheidungsprozessen. Das American lean model orientiert sich dabei mehr am japanischen Vorbild. Das team model, das weit stärker auf Dezentralisierung und Kooperation zwischen Arbeitnehmern und Management beruht, erinnert am ehesten an schwedische Vorbilder. Das team model ist in der amerikanischen Stahlindustrie übernommen worden. Im Dienstleistungsbereich findet man Beispiele bei den Telefonkonzernen US West und Bell South. Noch nicht umgesetzt, aber in Planung ist das Modell nach dem jüngsten Vertrag zwischen dem Telefonkonzern AT&T und den dortigen Gewerkschaften.

Gleichzeitig hat „AT&T“ jedoch angekündigt, 15.000 Leute in den nächsten zwei Jahren zu entlassen, ein Verfahren, das im Amerikanischen euphemistisch „downsizing“ genannt wird.

Das ist richtig und kompliziert die Sache enorm. Ganz generell halte ich downsizing für ein Modell, das nicht funktioniert. Dafür gibt es genügend empirisches Material. Gerade eben ist eine Studie erschienen, die 150 Firmen untersucht hat, in denen die Zahl der Arbeitnehmer reduziert wurde. 75 Prozent, so das Ergebnis, standen am Ende dieses Prozesses schlechter da als vorher. Wenn ein Konzern gleichzeitig Arbeitsplätze abbaut und eine Neuorganisation des Arbeitsablaufs durchführen will, dann bin ich nicht sehr optimistisch, was das Resultat angeht. Aber lassen Sie mich zum zentralen Punkt zurückkommen: Diese neuen Formen, Arbeit zu organisieren, sind auch im Dienstleistungssektor anwendbar, wo sie die Produktivität in Bereichen erhöhen können, an die bisher keiner gedacht hat – vor allem im Gesundheitsbereich und im Bereich Telekommunikation. Beispiele wie Bell South und US West beweisen: Man kann die Arbeit so organisieren, daß hohe Qualifikation mit hoher Produktivität und hohen Löhnen einhergeht. Vor allem aber existiert nach meiner Ansicht eine enorme Nachfrage für Dienstleistungen. Die Leute wollen mehr und bessere Gesundheitsversorgung, mehr Betreuung für Senioren, mehr Kindergartenplätze, mehr Einrichtungen für Weiterbildung, mehr Bibliotheken. Was den Dienstleistungsbereich betrifft, so stehen wir heute an jenem Punkt, an dem sich der Produktionssektor in den fünfziger und sechziger Jahren befand.

Sie selbst prophezeien dem Produktionssektor aber durchaus eine enorme Expansion: durch Exporte von Konsumgütern in sogenannte unter- oder weniger entwickelte Länder – vor allem nach Osteuropa und nach China.

Richtig. Diese Perspektive verspricht jedoch für Europa und Japan mehr, da in den USA kaum noch Konsumgüter hergestellt werden. Aber zweifellos bedeutet die Hebung des Lebensstandards in diesen Ländern enorme Chancen für den Produktionssektor in den Industrienationen. Ich mache mir da allerdings große Sorgen über die Art der Hilfsprogramme und vor allem über den Stand der Arbeitnehmerrechte und der Lohnentwicklung in diesen Ländern. Das worst case scenario schaffen die USA gerade am Beispiel Mexikos. Unsere Firmen errichten in Mexiko sogenannte „Exportplattformen“. Diese Firmen lassen Güter nicht für den mexikanischen Markt, sondern für den Verkauf in den USA produzieren – und profitieren dabei von den Niedrigstlöhnen in Mexiko. Diese Entwicklung wird sich nun, nach Abschluß des Nafta-Abkommens, noch weiter fortsetzen. Hätten wir statt dessen ein ökonomisches Aufbauprogramm für Mexiko und würden in Mexiko für den mexikanischen Markt produzieren, dann bestünde auch ein Interesse an steigenden Löhnen, damit der Absatzmarkt expandieren kann.

Nun konkurrieren zunehmend Industrieländer untereinander um Investitionen, indem sie die Lohnkosten senken. Wie kann dem auf multilateraler Ebene begegnet werden?

Dies ist ein gefährlicher Prozeß, der nicht nur zwischen Industrieländern, sondern auch innerhalb der jeweiligen Nationen stattfindet. In den USA ist dieses Konkurrenzverhalten Hauptursache dafür, daß hier in den letzten zwanzig Jahren die Reallöhne gesunken sind. Die anderen Industrienationen sollten sich unser Beispiel genau ansehen, bevor sie sich auf denselben Pfad begeben. Wenn die Konkurrenz innerhalb des eigenen Landes nicht mehr die gewünschten Niedriglöhne hervorbringt, dann werden Arbeitsplätze eben nach Mexiko verlagert – oder im Fall Deutschlands nach Osteuropa. Aus diesem Grund ist es unerläßlich, daß in alle internationalen Handelsabkommen Arbeitnehmerrechte integriert werden. Wir treiben uns sonst gegenseitig in die Verarmung.

Trotzdem ist in Deutschland die Forderung nach Lohnverzicht ebenso zum Ritual geworden wie die Forderung nach einem flexibleren Arbeitsmarkt à la USA.

Die Deutschen sollten sich in der Panik einer Rezession nicht Errungenschaften ausreden lassen, die ihre Wirtschaft sehr erfolgreich gemacht haben. Es stimmt: Der US-Arbeitsmarkt ist sehr viel flexibler. Aber sehen Sie sich die Folgen an: Niedriglöhne, die zur Zerrüttung der Städte und des Bildungswesens beigetragen haben. Man kann junge Leute nicht zu einem Schulabschluß motivieren, wenn als Perspektive ein Job mit einem Stundenlohn von sechs Dollar auf sie wartet. (Der Mindestlohn in den USA beträgt derzeit 4.25 Dollar pro Stunde, Anm. d. Red.) Wer sich darauf einläßt, den Markt für Billigjobs zu vergrößern, riskiert enorme Folgen für das Bildungssystem einer Gesellschaft. Interview: Andrea Böhm