Viel zu tun für wenig Geld

70 Prozent der in den USA neu geschaffenen Jobs sind ohne Sozialleistungen / Clinton-Administration folgt ausgetretenen Pfaden  ■ Aus Washington Andrea Böhm

In Phasen der Krise oder Ungewißheit sehnt sich der Mensch nach alten Zeiten zurück – in diesem konkreten Fall nach dem Jahr 1914. Damals gewährte Henry Ford, Galionsfigur der US- Autoindustrie, seinen Arbeitern eine Lohnerhöhung, damit sie sich leisten konnten, was sie in entfremdeter Arbeit produzierten. „Wer die Löhne senkt, der senkt auch die Zahl der Kunden“, räsonierte Ford. Dieser Grundsatz findet dieser Tage kein Echo.

Zwar verzeichnet die US-Wirtschaft einen wenn auch zaghaften Aufschwung, und das Arbeitsministerium verweist stolz auf die 456.000 Amerikaner, die allein im März dieses Jahres Arbeit gefunden haben. Doch die Frage ist: Arbeit für wieviel Geld? Daß 70 Prozent der besagten 456.000 Arbeitsplätze schlechtbezahlte Teilzeitjobs ohne Sozialleistungen sind, ist bedenklich genug. Ein noch deutlicheres Alarmsignal setzte Ende letzten Monats das „US Census Bureau“, eine Art statistisches Bundesamt für die Befindlichkeit der Bevölkerung: Die Zahl der Arbeitnehmer, die trotz Vollbeschäftigung mit ihrem Jahreseinkommen unter die Armutsgrenze von 13.000 Dollar für eine vierköpfige Familie fallen, ist seit 1979 von 12 auf 18 Prozent gestiegen.

Diese Studie dokumentiert einen Trend, der Mitte der siebziger Jahre in den USA einsetzte: Reallohneinkommen begannen zu stagnieren und schließlich zu fallen. Am schlimmsten trifft es vollbeschäftigte Frauen und Männer zwischen 18 und 24 Jahren, von denen inzwischen fast die Hälfte weniger als 13.000 Dollar Jahreseinkommen nach Hause bringt. Diese Tendenz setzt sich auch unter der Clinton-Administration fort.

Nach Berechnungen des Wirtschaftsanalytikers Richard Rothstein haben Fabrikarbeiter in der ersten Hälfte des Jahres 1993 zwei Prozent weniger verdient als im Jahr zuvor. Rothstein hält zudem die offizielle Arbeitslosenrate von 6,4 Prozent für statistische Kosmetik. Zählt man jene hinzu, die aus Frustration gar nicht mehr nach Jobs suchen, und jene, die in die Teilzeitarbeit gezwungen wurden, so liege die Rate bei 12 Prozent.

Amerikanische Wirtschaftswissenschaftler legen unterdessen die gleiche Beunruhigung und Ratlosigkeit an den Tag wie Theologen, deren Glaubenssystem durch bislang unbekannte Phänomene ins Wanken gerät. Auf der einen Seite stehen die „systemischen Reformer“ und das linksliberale „Economic Policy Institute“ (EPI), das ein keynesianisches Programm staatlicher Investitionen in die Infrastruktur, aber auch in neue Sektoren wie Umwelt- oder Kommunikationstechnologie befürwortet. Im Streit mit ihnen liegen die „Wall Street Democrats“ in Koalition mit Think Tanks wie der „Brookings Institution“ und dem „Progressive Policy Institute“, die der Bekämpfung des Haushaltsdefizits absolute Priorität einräumen, um so die Zinsraten zu senken.

Beide Flügel sind in der Clinton- Administration vertreten: EPI- Mitbegründer Robert Reich ist inzwischen Arbeitsminister. Alice Rivlin, vormals Ökonomin der „Brookings Institution“, ist heute stellvertretende Budgetdirektorin, und Robert Rubin, dessen Arbeitsadresse vormals „Goldman und Sachs“ hieß, leitet jetzt den neugegründeten „Nationalen Wirtschaftsrat“. Die zweite Gruppe hat eindeutig die Überhand gewonnen. Von Clintons ursprünglichem Wahlkampfprogramm ist nur das Zauberwort der „Competitiveness“ übriggeblieben: Der Abbau des Handelsdefizits sowie die Ausbildung international konkurrenzfähiger Fachkräfte sollen für ein Wachstum an Arbeitsplätzen und des Reallohneinkommens sorgen.

Dieser Theorie kontert nun Paul Krugman, 41jähriger „Wunderknabe" der Branche und Wirtschaftsprofessor am Massachusetts Institute of Technology (MIT). In einem Aufsatz für die Zeitschrift Foreign Affairs geißelte Krugman die Clinton-Administration und zahlreiche Kollegen für ihre Zwangsvorstellung des internationalen Wettbewerbs. Die These, wonach nationale Ökonomien wie große Wirtschaftsunternehmen miteinander konkurrierten, ist laut Krugman ein verführerischer Irrglaube, der einfache Antworten auf komplexe Probleme verspricht. Nicht die Konkurrenz Japans, Westeuropas oder die Auslagerung von Produktion in Billiglohnländer sei schuld an sinkenden Reallöhnen und dem Verlust von Millionen von Jobs im Produktionssektor, sondern der technische Wandel. Entscheidend für einen Aufschwung, den auch die Arbeitnehmer spüren, sei die Erhöhung der Produktivitätsrate auf dem amerikanischen Markt – vor allem im Dienstleistungssektor, wo ausländische Konkurrenz kaum eine Rolle spielt. „Clintonomics“ aber verhalte sich zur Ökonomie wie die Schöpfungsgeschichte zur Biologie.