Die Auferstehung von Keynes

In der Europäischen Union will eine sozialdemokratische Beschäftigungsinitiative den totgesagten britischen Nationalökonomen wiederbeleben  ■ Von Alois Berger

Wim Van Velzen ist gar nicht begeistert, daß die Europäische Union die Arbeitslosigkeit zum Topthema erhoben hat. „Seit Monaten wird darüber geredet, wie die Arbeitslosen in ihre Jobs zurückzubringen sind“, klagt er. Statt dessen sollte doch darüber gerdet werden, wie neue Arbeitsplätze geschaffen werden können. „Europa sollte weniger über Arbeitslosigkeit und mehr über Beschäftigung nachdenken.“

Der Niederländer Van Velzen ist einer der Antreiber der Europäischen Beschäftigungsinitiative, einer Arbeitsgruppe der sozialdemokratischen/sozialistischen Fraktion im Europaparlament. Seine Kritik richtet sich gegen die vorherrschende Meinung in der Europäischen Union, durch Liberalisierung der Arbeitsmärkte, durch Abbau der sozialen Sicherheit und Senkung der Löhne ließen sich Arbeitsplätze erhalten oder gar neue schaffen. Auch wenn das in einigen Bereichen zutreffen könne, bei Gärtnern etwa oder bei Haushaltshilfen, „gesamtwirtschaftlich gesehen veranstalten die Regierungen nur einen Wettlauf um die billigsten Arbeitsplätze, in der Hoffnung, daß den Partnern vorher die Luft ausgeht“. Heiliger Florian der Stahlindustrie.

Hoffnung auf bessere Zeiten schöpfen Sozialdemokraten und Sozialisten ausgerechnet aus der wirtschaftlichen Verflechtung Europas durch den Binnenmarkt. Jahrelang starrten linke Strategen auf die Internationalisierung von Wirtschaft und Industrie wie das Kaninchen auf die Schlange. Je durchlässiger die Grenzen für den Verkehr von Waren und Kapital wurden, desto sicherer liefen die klassischen sozialdemokratischen Beschäftigungskonzepte ins Leere.

13 Jahre liegt beispielsweise das letzte große Nachfrageprogramm in Europa zurück. Damals wollten die französischen Sozialisten zum Regierungsantritt mit deutlichen Lohnerhöhungen die Konsumwirtschaft anheizen. Doch das Gros des Nachfragebooms wurde von der besser vorbereiteten deutschen Wirtschaft abgeschöpft: Mitterrand ritt in die roten Zahlen. Ähnliche Versuche wurden seitdem unterlassen.

Jetzt haben die linken Beschäftigungsstrategen Europa neu entdeckt. Um die Möglichkeiten einer aktiven Arbeitsmarktpolitik auf europäischer Ebene auszuleuchten, legte die Beschäftigungsinitiative im April die „erste europäische volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“ vor. Die Europäische Union wird wie ein einziger Staat betrachtet und eine entsprechende Bilanz aufgestellt. Eine der wesentlichen Erkenntnisse daraus ist, daß die Staaten der Europäischen Union einschließlich der künftigen Mitglieder Norwegen, Schweden, Finnland und Österreich den allergrößten Teil des Handels untereinander abwickeln und daß nur sieben Prozent des europäischen Inlandsproduktes im Handel mit dem Rest der Welt zustande kommen.

Für Van Velzen und die europäischen Sozialdemokraten bedeutet das, daß die Sozialsysteme erhalten werden können, wenn sie auf europäischer Ebene abgestimmt werden, und daß selbst staatliche Nachfrageprogramme wieder möglich sind. John Maynard Keynes sei nur als Nationalökonom tot, sagt Van Velzen in Anspielung auf die von dem mehrfach begrabenen Briten geforderten staatlichen Beschäftigungsprogramme, „in Europa kann Keynes wieder leben“. Die europäische Einigung ermögliche, eine ganze Reihe von beschäftigungspolitischen Maßnahmen „aus dem Wettbewerb der Volkswirtschaften herauszunehmen“.

Die Europäische Kommission in Brüssel unterstützt die Forderung nach einem europaweiten Beschäftigungsprogramm und teilt auch sonst viele Ideen der linken Beschäftigungsinitiative: Qualifizierung der Arbeitskräfte, Schaffung eines investitionsfreundlichen Klimas, Freihandel als Motor der europäischen Wirtschaft – lauter Punkte, die sowohl bei den Sozialdemokraten auftauchen als auch im Weißbuch der Europäischen Kommission. Aber das Weißbuch, mit dem die europäische Verwaltung in Brüssel den Regierungen der Mitgliedsstaaten Vorschläge für eine Beschäftigungspolitik macht, fordert auch die von den Sozialdemokraten kritisierte Liberalisierung der Arbeitsbeziehungen.

Im Ministerrat, wo die europäischen Gesetze beschlossen werden, sind zur Zeit von den britischen Konservativen über die Gaullisten, die Letzeburger Sozialistesch Arbechterpartei und die bayerischen Christsozialen bis zu den Fianna Fil, den irischen Soldaten des Schicksals, 31 Parteien am Werk. In Kürze werden vermutlich auch einige Minister aus dem Berlusconi-Wahlverein und eventuell auch von den italienischen Faschisten dabeisein. Die Europäische Union ist eine Multi- Parteien-Koalition, und das Weißbuch ist ihr Beschäftigungsprogramm.

Die meisten Regierungen, allen voran die britische und die deutsche, haben sich umgehend für die weisen Empfehlungen zur Liberalisierung bedankt und Vollzug versprochen. Um so heftiger verwarfen sie den Weißbuch-Vorschlag, für den Aufbau transeuropäischer Verkehrs-, Energie-, und Informationsnetze zusätzliche Kredite aufzunehmen, um dadurch die Beschäftigung zu stimulieren. Transeuropäische Netze ja, aber nur, soweit die Projekte national finanziert werden, keinesfalls, so entschied eine Mehrheit der Finanzminister, dürfe Brüssel Geld dafür aufnehmen.

„Die Europäische Union“, schimpft Van Velzen, „hat keine Strategie für neue Arbeitsplätze.“ Um genau zu sein, hat sie nicht einmal die Kompetenz dafür, die liegt bei den 12 Regierungen. Was für Sozialdemokraten wie Van Velzen besonders bitter ist: Einige dieser Regierungen sind sozialistisch und nehmen die linke Beschäftigungsinitiative trotzdem nicht ernst. Die von führenden europäischen Sozialisten geforderte Umweltsteuer beispielsweise, die Umweltverschmutzung teurer und Arbeit billiger machen soll, wird im Ministerrat vor allem von Portugal, Spanien und Griechenland blockiert – lauter sozialistische Regierungen, die mehr Angst um nationale Kostenvorteile als Vertrauen in die Theorie ihrer Glaubensbrüder haben. „Wir arbeiten daran,“ versichert Van Velzen, „das Europäische Parlament ist unsere Plattform, um Einfluß auf die nationalen Regierungen zu nehmen.“ Vor allem in der Diskussion um europäische Mindeststandards beim Arbeitsrecht gebe es Annäherungen.

Eine einheitliche Sozialgesetzgebung ist Voraussetzung für eine europäische Beschäftigungsoffensive, wie sie von der sozialdemokratischen/sozialistischen Fraktion gefordert wird. Doch daran hapert es noch in Europa. Der Binnenmarkt ist fast fertig, aber der Sozialcharta fehlt die Autorität, was daran liegt, daß sie in Maastricht nur von 11 der 12 Länder unterschrieben wurde. Solange Großbritannien sich an den Sozialabmachungen gar nicht erst beteiligt, müssen die anderen fürchten, daß bei strikter Anwendung von sozialen Mindestnormen Aufträge und Arbeitsplätze ins kostengünstigere England abwandern. „Wir stehen heute kurz vor dem Punkt“, sinniert Van Velzen, „an dem wir überlegen müssen, wie man ein Mitgliedsland loswerden kann.“