Global, lokal, nicht egal

Die Zukunft für Arbeit und Kapital liegt in lokalen und regionalen Netzwerken, denn die einseitige Weltmarktorientierung bietet keine Perspektive  ■ Von Florian Marten

Wenn die Bankerin Joan Shapiro durch South Shore, einen traditionsreichen Stadtteil von Chicago, schlendert, kann sie sich an vielen Stellen ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. Sie sieht das Geld ihrer Bank arbeiten und einen Stadtteil blühen, der, wäre die Entwicklung „normal“ verlaufen, längst ein trister Slum sein müßte.

1973 übernahm eine kleine Gruppe engagierter Privatleute eine Bank im 80.000-Einwohner- Viertel South Shore, das damals alle Anzeichen einer drohenden Verslumung aufwies. Die Mittelschicht zog aus, Schwarze ein, Banken und Versicherungen ergriffen die Flucht. Die ökonomische und soziale Schlinge zog sich immer enger. Die neuen Banker hatten eine andere Vision mit ihrer South- Shore-Bank. Erklärtes Ziel war es, den Verfall zu stoppen und damit Geld zu verdienen.

Es hat funktioniert. South Shore blüht, hat sich von innen heraus saniert. „Das glückte mit den ansässigen Leuten, niemand wurde vertrieben“, vermerkt der Hamburger Finanzwissenschaftler Udo Reifner begeistert, der Shapiros Modell auch in Europa hoffähig machen möchte.

Joan Shapiro, Vizechefin der South Shore Bank, hält ihr Modell, das US-Präsident Bill Clinton seit 1988 auch in Arkansas ausprobieren läßt, für exportfähig. Das Erfolgsrezept ist verblüffend schlicht: Statt in Großprojekte oder die internationalen Finanzmärkte steckten die Sozialbankiers das Geld in den eigenen Stadtteil. Sozialarbeit, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, professionelle Beratung, Risikokapitalanlage, Bank- und Immobiliengeschäft arbeiten dabei Hand in Hand. Es wird Geld verliehen an Personen und für Projekte, die durchs übliche Bankraster fallen. Gleichzeitig gelten die eisernen Grundregeln des klassischen Kapitalismus: Die Projekte müssen sich rentieren.

Die Kreditausfälle der Bank im Südwesten Chicagos liegen heute weit unter dem US-Durchschnitt, die Profitrate erheblich darüber. Erfolgsgeheimnis sind die Vernetzung der Institutionen und die gegenseitige soziale Kontrolle: Die Wege des Kapitals sind hier kein Geheimnis mehr. Ein weiterer wichtiger Vorteil: Die Vertreibung durch Spekulanten wird durch einen erstarkten Kapitalismus aus dem Viertel heraus behindert.

Wenn Harald Röder, Leiter der Denkfabrik des Hamburger Großversicherers „Volksfürsorge“, vom schnieken Domizil seiner „Akademie der Volksfürsorge“ an der Alster durch den bunt-berüchtigten Stadtteil St. Georg schlendert, überfallen ihn immer häufiger düstere Visionen. Verslumung bedroht heute den reichen Norden Europas. St. Georg, ein traditionsreiches Viertel östlich des Hauptbahnhofs, steht seit längerem auf der Kippe: Drogen, Beschaffungskriminalität, Prostitution, offene Gewalt. Sozialarbeit und Polizei können den Stadtteil nicht retten. Keine gute Perspektive: Die Volksfürsorge-Gruppe hat ihren Stammsitz in St. Georg. Ein Verfall des Viertels wäre freilich nicht nur imageschädigend. Röder: „Ein Drogenabhängiger verursacht hier täglich für viele hundert Mark versicherungsrelevante Schäden.“ Kosten, die auch die Bilanz der Volksfürsorge belasten.

Sorgen macht sich nicht nur Harald Röder. Die EU startete bereits vor geraumer Zeit das Forschungsprojekt „Quartiers en Crise“, Stadtviertel in der Krise, ein Netzwerk von 44 Stadtteilen in zehn europäischen Ländern. Gesucht wird nach Strategien, welche die Schattenseite der wirtschaftlichen Entwicklung, die Spaltung der Gesellschaft, vor Ort auffangen. So erproben Ruhrgebietsstädte „Strategien zur Revitalisierung von Stadtteilen“, und Hamburgs regierende Sozialdemokraten legten bereits Ende 1992 ein Programm „Soziale Brennpunkte“ auf, um von der Verelendung bedrohte Stadtteile vor einem weiterem Verfall zu schützen.

Bislang freilich waren die europäischen Ansätze zur Sanierung von Stadtvierteln eher sozialtherapeutischer Art. Harald Röder und die Volksfürsorge plädieren jetzt für eine neue Philosphie, die sich am Vorbild des Chicagoer Social Banking orientiert: Ein Netzwerk von privaten Geldgebern, städtischen Einrichtungen und Menschen aus dem Stadtteil St. Georg soll für eine Umkehrung der wirtschaftlichen und sozialen Trends sorgen: Ziel ist die wirtschaftliche Revitalisierung des Stadtteils mit neuen, zukunftsweisenden Arbeitsplätzen. Potente Unternehmen mit einem Touch gesamtkapitalistischen Eigeninteresses – wie eben Versicherungen und Banken – können so statt in weltweite Arbeitsteilung in lokale Wertschöpfung investieren.

Eine solche Revitalisierung muß nicht bei Dienstleistung, Handel und Handwerk enden, meint der renommierte Stadt- und Regionalökonom Dieter Läpple vom Wissenschaftszentrum Nordrhein- Westfalen. Er plädiert in seinen jüngsten Veröffentlichungen für eine Umkehrung bisheriger wirtschaftlicher Strategien. Städte und Regionen, die sich gewaltsam für den Weltmarkt fit machen, so doziert er, zerstörten oft ihren lokalen wirtschaftlichen Humus. Damit vernichteten sie meist mehr, als sie je durch herbeisubventionierte internationale Arbeitsteilung mit Zukunftsprodukten wieder hereinholen könnten.

Der Schwabe Läpple, der seine Laufbahn als Maschinenschlosser im mittelbetrieblichen Milieu des baden-württembergischen Maschinenbaus begann, setzt diesen Weltmarktstrategien eine „quartier- und milieubezogene Entwicklung von Stadtraum und Ökonomie“ entgegen, die „endogene Potentiale nutzt“ und „Synergien durch Vernetzung“ mobilisiert. Auf deutsch: Städte und Regionen sollen sich auf ihre vorhandenen Stärken besinnen und diese klug entwickeln.

Läpple sieht in der aktuellen Umwälzung der Produktions- und Arbeitsverfahren (weg von einer hierarchisch-zentralisierten Massenproduktion hin zu flexiblen, an Kundenbedürfnisse angepaßten Produkten) einen wichtigen Wegbereiter seiner Vorschläge.

Eine faszinierende Vision: Wo bisher eine radikalisierte weltweite Arbeitsteilung Natur und Gesellschaftssystem zerstörte und dabei auch ihre eigenen Grundlagen bedrohte – Slumbewohner sind nicht sehr kaufkräftig –, könnte dann auf der Basis gesunder lokaler Kleinökonomien ein „gesunder“ Weltmarkt aufbauen. Dieser würde nicht mehr um jeden Preis arbeitsteilen, spekulieren und transportieren, sondern vor allem Wissen und Spezialprodukte austauschen. Dies setzt eine radikale Trendwende bei der heutigen Wirtschafts-, Ansiedlungs- und Subventionspolitik voraus.

Lokal und regional ausgerichtete Konzepte, die Menschen, Wissen und Ressourcen der Region verknüpfen, müßten an die Stelle jener Gießkannen-Strategien treten, die heute Großkonzerne ohne jede Rücksicht auf regionale Zusammenhänge stark machen.