Gewinnerin der Einheit

Nicht alle ostdeutschen Frauen bleiben auf der Strecke  ■ Von Ulrike Helwerth

Frauen sind die Verliererinnen der Einheit. Schon bald nach der Wende machte dieser Satz die Runde. Feministinnen und Frauenpolitikerinnen, vor allem aus dem Osten, wollten damit auf einen der größten Skandale der Vereinigung aufmerksam machen: den Abbau von sozialen Rechten für Frauen. In der Folge wurden sie massenhaft aus dem Erwerbsleben verdrängt, aber auch aus Politik und Öffentlichkeit, durch die Restauration einer überholt geglaubten Geschlechterordnung.

Inzwischen ist die Warnung längst zur Standardformel geronnen. Gebetsmühlenartig wird sie wiederholt, von SozialpolitikerInnen, ArbeitsmarktpolitikerInnen, Frauenpolitikerinnen und in den Medien. Dadurch aber wird dem Skandal die politische Brisanz entzogen. Frauen sind die Verliererinnen der Einheit – der Satz bestätigt nur mehr die Normative: Frauen sind – wie immer – die Opfer. Jenseits der statistischen Totschlagargumente aber gibt es nicht wenige individuelle Wende-Bilanzen, die sich anders lesen.

Annette Martens* würde nie von sich behaupten, eine Verliererin zu sein. Von der großflächigen Abwicklung der ostdeutschen Hochschulen blieb die 34jährige promovierte Anglistin verschont. Sie sitzt heute auf einer C2-Stelle an einer Universität in Sachsen und möchte in vier Jahren mit ihrer Habilitation fertig sein. Annette Martens hat eine sechsjährige Tochter. Ihr Lebensgefährte ist Angestellter bei einer Bank. Das Eigenheim im Grünen ist demnächst bezugsfertig. „Uns geht es eigentlich besser als vorher, vor allem materiell. Ich verdiene viel mehr Geld und fühle mich zum ersten Mal meinen Qualifikationen entsprechend bewertet“, sagt sie. Und sie ist davon überzeugt, „daß die meisten meiner Generation, also Leute zwischen dreißig und vierzig Jahren, Gewinner der Wende sind“.

Die DDR war keine klassenlose Gesellschaft, auch wenn sie sozial homogen schien. Die vorhandenen Unterschiede, bedingt durch Bildung, beruflichen Status, Alter, Geschlecht, traten eher verdeckt auf. Auf dem Weg in die individualisierte, leistungsorientierte Risikogesellschaft, im Prozeß der sozialen Um- und Neuschichtung werden diese Differenzierungen nun verstärkt, beschleunigt und existentiell bedeutsam.

Annette Martens gehört – abgesehen von ihrem Geschlecht – aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Bildung, ihrer hohen beruflichen Qualifikation und ihres Alters zu der Gruppe mit den besten Startchancen. Zu denen, für die die Differenzierung und Individualisierung von Lebenskonzepten neue Optionen bedeuten, die erfolgsorientiert und motiviert sind und die Forderung nach Leistung, Mobilität, flexiblen Denk- und Handlungsmustern positiv für sich umsetzen können. Für manche haben sich dadurch Möglichkeiten eröffnet, von denen sie früher nicht einmal träumten.

Die 39jährige Petra Fischer ist Direktorin einer Gesamtschule im Land Brandenburg. Eine vergleichbare Position hätte sie in der DDR nie erreicht, versichert sie, „schon weil ich weder in der SED war noch mich durch besondere Linientreue hervorgetan habe“. Nach der Wende reizte sie „die Chance zum Neuanfang“. Sie wollte etwas machen aus ihren „Ideen und Idealen, ohne die ich nicht leben kann.“ Was sie nun hat, ist ein „verantwortungsvoller, nervenaufreibender Job“, der sehr viel Kraft und Zeit absorbiert. Beides geht ihren zwei Söhnen und ihrem Mann verloren, wie Petra Fischer bedauert. Dennoch bereut sie es nicht, ihren ruhigen Posten als Lehrerin für Mathe und Physik mit dem der Direktorin vertauscht zu haben. Denn „es hat sehr viel mit der Verwirklichung meiner Person zu tun“.

Bei Petra Fischer stehen die Ideale, nicht der Verdienst im Vordergrund, wenn sie über ihre Tätigkeit spricht. Arbeit bedeutet für sie weit mehr, als den Lebensunterhalt zu verdienen, ökonomisch unabhängig zu sein. Sie will sich „austesten, bis „an Grenzen“ gehen. Ein idealistisches Konzept der Selbstverwirklichung, das auch bei anderen Frauen dieser sozialen Gruppe häufig zu finden ist.

„Arbeit ist für mich Leben“, sagt Sabine Hartmann. Die 31jährige Psychologin aus Berlin war früher in einer Familienberatungsstelle tätig. Im Herbst 89 geriet sie in den Aufbruch der Frauen in der DDR und wurde in der Bewegung aktiv. Seit 1991 arbeitet sie in einem feministischen Therapie- und Beratungsprojekt. „Für mich hat sich eigentlich sehr viel positiv verändert“, sagt sie. „Ich bin privat befreit, ich bin selbstbewußter als früher. Im Moment bin ich finanziell so abgesichert, daß ich nicht jeden Pfennig umdrehen muß. Und ich beschäftige mich ganztags und bezahlt mit Fragen, die mich früher privat und in der Freizeit beschäftigt haben.“

Sabine Hartmann hat eine achtjährige Tochter und lebt in Scheidung. Für sich und andere Frauen aus ihrem privaten und politischen Umfeld bilanziert sie einen „ganzheitlichen“ Gewinn, der materielle und ideelle Aspekte vereinigt. „Natürlich gehöre ich zu den Privilegierten“, sagt die Psychologin. Sie kontrastiert ihre Erfahrungen mit denen vieler Frauen, die in die Beratungsstelle kommen: „Da hat die Wende zu ganz einschneidendem Selbstwertverlust und Selbstwertzweifeln geführt.“ Trotzdem kann sie „diesen Satz von den Verliererinnen“ nicht mehr hören. „Er macht Frauen zum passiven Objekt und verhindert, daß sie für ihre Rechte oder Interessen aktiv werden“, kritisiert Martens. Bekräftigt werde dadurch vor allem eines: das bekannte Muster, nach dem Macht und Ohnmacht, Täter- und Opferrolle unlösbar an das Geschlecht gebunden sind.

*alle Namen von der Redaktion geändert