Lohngroschen aus der öffentlichen Hand

Der zweite Arbeitsmarkt ist umstritten  ■ Von Silvia Schütt

Alle reden davon, aber keiner kann klar definieren, was er ist: der zweite Arbeitsmarkt. Gibt es ihn schon, oder kommt er erst noch? Fest steht lediglich, was der Begriff in etwa umfaßt: ein mehr oder weniger großes Kontingent an Arbeitsplätzen, das die öffentliche Hand mehr oder weniger dauerhaft finanziert.

Das Bekenntnis zu einem zweiten Arbeitsmarkt fußt auf einer mittlerweile jahrzehntealten Einsicht: Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung sind nur noch bedingt miteinander gekoppelt. Mit sechs Millionen Arbeitsuchenden rechnet etwa die Berliner Arbeitssenatorin Christine Bergmann (SPD), eine vehemente Befürworterin eines dauerhaften zweiten Arbeitsmarktes. Auch der DGB hält die Hoffnung, öffentlich geförderte Jobs seien nur eine Übergangslösung, für überholt.

Wo die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ versagen, muß der Staat eingreifen. Darüber herrscht in der öffentlichen Debatte Übereinstimmung. Bei den konkreten Szenarien aber gehen die Meinungen weit auseinander. „Wir reden lieber über ABM“, schmettert etwa Hermann Pieper, Referatsleiter für Arbeitsmarktpolitik unter FDP-Wirtschaftsminister Rexrodt, Fragen zu einem zweiten Arbeitsmarkt ab. Sein Entwurf öffentlich geförderter Beschäftigung deckt sich mit den Vorstellungen von weiten Teilen der FDP, des CDU-Wirtschaftsflügels und Vertretern der Wirtschaft vor allem aus dem Handwerk. „Wir wollen deutliche Lohnunterschiede, sagen wir mal 20 Prozent des Tariflohns, um einen Anreiz zur Rückkehr auf den regulären Arbeitsmarkt zu schaffen.“

Die Zahl der öffentlich geförderten Stellen soll die Zahl der heutigen ABM-Kräfte nicht überschreiten, fordert Pieper. Es gäbe einfach keinen größeren Bedarf, meint er. 1993 verdienten 310.000 Menschen in AB-Maßnahmen ihr Geld, davon knapp 260.000 in den neuen Ländern. Noch ein Jahr zuvor waren 466.000 Arbeitslose in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen untergekommen. Auch die Laufzeit der Verträge will der Mann aus dem Wirtschaftsministerium weiter auf zwei Jahre begrenzen. Im Grunde halten er und seine Leute die ganze Diskussion über den zweiten Arbeitsmarkt schlicht für gegenstandslos: Was getan werden kann, praktiziere die Bundesanstalt für Arbeit bereits. Mehr sei nicht drin.

Hinter einem solch restriktiven Entwurf eines zweiten Arbeitsmarktes steckt die Ablehnung von Arbeitsmarktpolitik im allgemeinen. Es dominiert die Hoffnung, Wirtschaftspolitik mit einer Prise Lohnpolitik („Löhne runter – Wirtschaft rauf“) würde es schon richten. Ein zweiter Arbeitsmarkt hat danach seine Existenzberechtigung bestenfalls als Brücke zurück in die reguläre Beschäftigung.

Die Ökonomin Christa Müller, Mitarbeiterin der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, kritisiert die bisherige ABM-Konstruktion: Die Maßnahme geht an den Bedürfnissen von Langzeitarbeitslosen und anderen „Problemgruppen“ des Arbeitsmarktes vorbei. Für sie gäbe es keine Brücke zurück zum ersten Arbeitsmarkt. Außerdem kranke die bisher praktizierte Arbeitsmarktpolitik an ihrer Unstetigkeit; sowohl Trägergesellschaften als auch Arbeitnehmer bekämen zu kurz und nur sporadisch Geld. Die Berliner SPD-Senatorin Christine Bergmann fordert einen auf Dauer angelegten zweiten Arbeitsmarkt für bis zu einer Million Menschen. Sie sollen im öko-sozial-kulturellen Bereich eingesetzt werden.

In einem „Plädoyer für einen zweiten Arbeitsmarkt“ hat Fritz Scharpf, Direktor am Max-Planck- Institut für Gesellschaft und Forschung in Köln und Wirtschaftsberater der SPD, zwei Ebenen der öffentlichen Förderung entworfen. Grundsätzlich sollen danach Erwerbslose ein Subsistenz-Einkommen erhalten, das etwa der jetzigen Sozialhilfe entspricht. Daneben wird ein „sozial akzeptables Niedrig-Einkommen“ festgelegt, das kein Erwerbstätiger auf dem ersten und zweiten Arbeitsmarkt unterschreiten kann. Wer weniger verdient, wird vom Staat durch eine Negativsteuer subventioniert.

Zwar wollen die Gewerkschaften nicht vom Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ abrücken. Tatsächlich aber gibt es zu einer Bezahlung unterhalb der regulären Tarife wohl kaum eine realistische Alternative.

Finanziert werden soll der zweite Arbeitsmarkt nach Vorstellung von Bergmann duch die Einsparung von Arbeitslosenunterstützung. Was dann noch fehlt, soll aus dem Steuersäckel und durch eine Arbeitsmarktabgabe aufgebracht werden. Auch der DGB rechnet unter Berücksichtigung heutiger Einnahmeausfälle bei Sozialversicherungen und Steuern mit einer „weitgehenden Selbstfinanzierung“.