Zuviel Arbeit im Kopf

Heute ist immer weniger Arbeit nötig, um immer mehr Güter zu produzieren. Aber der Abschied von der Ideologie der Arbeitsgesellschaft fällt schwer  ■ Von Erwin Single

Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeiten bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion.“ Es lohnt sich wieder, Karl Marx zu lesen. Wer neue Wege in der Auseinandersetzung um die Neuverteilung und Neubewertung der Arbeit beschreiten will, kommt nicht daran vorbei, diese Zentralkategorie der Moderne zu entschlüsseln. Seit mehr als 200 Jahren steht in den entwickelten Industrieländern die Arbeit, genauer gesagt die Erwerbsarbeit, im Mittelpunkt allen Sinnens und Trachtens. Doch wieviel Arbeit braucht der Mensch? Zu Marx' Lebzeiten betrug die wöchentliche Arbeitszeit in Deutschland noch 80 bis 85 Stunden, bis heute ist sie auf durchschnittlich 38 Stunden gesunken. Kamen die 1928 Geborenen auf eine Lebensarbeitszeit von rund 110.000 Stunden, so hat sich die Zeit, die mit Erwerbsarbeit verbracht wird, für den Jahrgang 1957 bereits beinahe halbiert. Erschließt der langsame Abschied von der Arbeitsgesellschaft am Ende gar die Wege ins Paradies? Oder öffnete er nur kleine Fluchten, in denen sich die „Befreiung von der Arbeit“ bald als illusionärer Idealismus entpuppt?

„Die Freiheit in diesem Gebiet“, so schrieb Marx im dritten Band des „Kapitals“, „kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen.“ Arbeit blieb für den Philosophen jedoch ein „Reich der Notwendigkeit“. Erst jenseits davon beginne die „menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt“, beginne „das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit erblühen kann“. Arbeit scheint dem Menschen also ohne Alternative aufgegeben, auch wenn das Reich der Freiheit immer größer und das der Notwendigkeit immer kleiner werden sollte.

Die berufliche Erwerbsarbeit sei, so glaubte Max Weber, das Schicksal der modernen Welt. Vom Sprung in die Freiheit aber, den viele Marx-Interpreten der 68er Generation in Anlehnung an die vielzitierte Passage voreilig mit grenzenloser Freizeit oder einer Arbeiterselbstverwaltung gleichsetzten, blieb nur eine vage Vision.

Statt dessen bildete der Siegeszug der Erwerbs- und Lohnarbeit die objektive Basis einer Vergesellschaftung – der kapitalistischen Vereinheitlichung der Arbeitsverhältnisse unter dem Zepter der abstrakten Arbeit (Marx). Arbeit, Produktion und Erwerb wurden zu den alles dominierenden Schlüsselkategorien für Gesellschaftsverfassung und Gesellschaftsentwicklung. „Die Neuzeit“, so schrieb Hannah Arendt in ihrem Hauptwerk „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“, „hat im 17. Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahrhunderts damit geendet, die Gesellschaft im ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln.“ Der psychosozialen Kolonisation des Menschen durch die Arbeit verhalf schließlich die Säkularisierung des christlichen Arbeitsethos zum modernen Leistungs- und Erfolgsdenken zum Durchbruch. Die These des Reformators Calvin, der Mensch müsse fleißig, fleißig und noch einmal fleißig sein, zerstörte das Ansehen, das Müßiggang und die Faulheit in früheren Epochen genossen. So wurde, beschrieb Max Weber, „die nutzlos vertane Zeit gleichbedeutend mit einem gottlosen Frevel“.

Erst Anfang der 80er Jahre wurde das arbeitszentrierte Selbstverständnis in den modernen Industriegesellschaften massiv erschüttert, als der Soziologe Ralf Dahrendorf das „Ende der Arbeitsgesellschaft“ ankündigte. Sein Kollege Klaus Offe stellte ernüchternd fest: „Nicht nur objektiv ist die Arbeit aus ihrem Status als einer zentralen und selbstverständlichen Lebenstatsache verdrängt worden, sondern auch subjektiv hat sie diesen Status im Motivhaushalt der Arbeitenden eingebüßt.“ Arbeit sei, konstatierte Offe, weder als normierte Pflicht noch als Zwang, keineswegs mehr der entscheidende Kristallisationspunkt der Lebensführung. Der Mensch lebt nicht nur durch die Arbeit allein. Arbeitsethische Einstellungen schwinden unter der Auflösung religiöser, kultureller und proletarischer Traditionen und Lebenszusammenhänge oder geraten unter das Räderwerk der Rationalisierung der industriellen Produktion. Und das subjektiv erfahrene Wohlstandsniveau, abgesichert durch wohlfahrtsstaatliche Leistungen, hebt tendenziell den vom Markt diktierten Arbeitszwang auf. Andere, arbeitsferne Erfahrungen, Bedürfnisse und Orientierungen gewinnen an subjektiver Relevanz und treten im individuellen Lebensentwurf neben die Erwerbsarbeit.

Jürgen Habermas wollte im Verlust der arbeitsgesellschaftlichen Utopie gar den Grund für die politisch-kulturelle Orientierungslosigkeit erkennen. Die arbeitsgesellschaftliche Utopie, hielt er 1985 zur „neuen Unübersichtlichkeit“ fest, habe ihre Überzeugungskraft eingebüßt – „und dies nicht nur, weil die Produktivkräfte ihre Unschuld verloren haben oder weil die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln offensichtlich nicht per se in Arbeiterselbstverwaltung einmündet. Vor allem hat die Utopie ihren Bezugspunkt in der Realität verloren: die strukturbildende und gesellschaftlich-formierende Kraft der abstrakten Arbeit.“ Mit den sich erschöpfenden Energien der arbeitsgesellschaftlichen Utopie, so Habermas, gerate auch die Sozialstaatsentwicklung in eine Sackgasse, weil diese die Kraft verliere, „künftige Möglichkeiten eines kollektiv besseren und weniger gefährdeten Lebens zu erschließen“. Daraus läßt sich auf einen sich andeutenden gesellschaftlichen Paradigmenwechsel schließen, der wohl von fundamentaler Bedeutung für das Zusammenleben in einer postindustriellen Welt sein dürfte: vom Paradigma der Verteilung zum Paradigma der Lebensweise.

Kritische Stimmen wie der französische Sozialphilosoph André Gorz haben zu Recht eingewandt, daß der kulturelle Widerstand gegen eine durch Kolonisierungsversuche bedrohte Lebenswelt sich zwar gegen die technokratische Vormachtstellung der herrschenden Klasse richte, nicht aber die ökonomische Basis in Frage stelle. Und selbst Habermas hat relativierend darauf hingewiesen, daß die Fremdbestimmung des Individuums als Konsument genauso groß sein könnte wie die Unterwerfung unter die Arbeitsmoral. Doch trotz Wertewandels und Massenarbeitslosigkeit halten noch immer große Teile der Wissenschaft, Wirtschaft und Politik an dem aus der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts stammenden und einseitig auf die produktive Lohn- und Erwerbsarbeit ausgerichteten Arbeitsbegriff fest. Gerade dessen eindimensionaler und in der Geschichte des Kapitals verengter Charakter aber versperrt die Sicht auf andere sinnvolle Tätigkeiten, etwa im Bereich der informellen Ökonomie oder in jenen lebensweltlichen Zusammenhängen, die als „Reproduktionsbereich“ zusammengefaßt werden. „Produziert“ wird ja nicht nur in den Betrieben, sondern auch im privaten Haushalt, in der Nachbarschaftshilfe, in ehrenamtlichen Tätigkeiten, im künstlerischen Bereich. Für einen Schritt von der Arbeitsgesellschaft zur Tätigkeitsgesellschaft, den nicht wenige industriegesellschaftliche Dissidenten vehement einklagen, müssen solche weitgehend selbstbestimmten Tätigkeiten aufgewertet werden, die jenseits der mehrwertsetzenden, auf Geldverdienen und Wohlstandssteigerung ausgerichteten Berufs- und Erwerbsarbeit liegen und nur am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit innerhalb der Industriegesellschaft stehen.

Nicht unberechtigt hat schon Hannah Arendt das Handeln als fundamentale Kategorie bezeichnet, ohne das ein auf Arbeit und Herstellen reduziertes Leben seelisch und geistig verödet. Schließlich war auch sie es, die bereits in den 50er Jahren warnte: „Es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um derentwillen die Befreiung sich lohnen würde.“

Dabei setzte die Krise der Erwerbsarbeit nicht erst mit dem rapiden Anwachsen des Arbeitslosenheers ein. Arbeit eröffnete seit jeher den Zugang zu den Gütern der Erde und diente somit dem Ziel des Industrialismus, die ganze Erde zu unterwerfen. Der industrielle Herstellungs- und Machbarkeitswahn hat stinkende Blechlawinen, allerhand Kriegsgerät und Berge von Wohlstandsmüll geschaffen sowie eine geschundene Natur hinterlassen. Die Vergötzung und Verherrlichung der Arbeit als quasi anthropologischer Wesenszug, als werteschaffender, produktiver und schöpferischer Akt, als fortschrittstragende Aktivität, als emanzipatorische Leistung verschleierte stets ihr Janusgesicht: Arbeit ist als die größte Produktivkraft nicht nur schöpferisch, sondern immer auch zerstörerisch – sie vernichtet die natürlichen Lebensgrundlagen, schädigt Mitmenschen, betreibt Raubbau an Gefühl und Gemüt, deformiert das Selbst und legt Werte wie Solidariät, Liebe, Anteilnahme oder Gelassenheit in Schutt und Asche. Dies läßt sich auch nicht mit dem Hinweis auf das Herrschaftsverhältnis des Kapitals über die Lohnarbeit oder den despotischen Apparat der materiellen Produktion entkräften. Der Mythos hält sich zu hartnäckig, als daß sein erkennbares Destruktionspotential die Arbeitswut vom ideologischen Thron stoßen könnte. Die Debatte darüber, wie in einer Arbeitsgesellschaft, der allmählich die (Erwerbs-)Arbeit ausgeht, neue Arbeitsplätze geschaffen werden können, zeigt, wie phantasielos mit dem „Recht auf Arbeit“ der (kapitalistische) Arbeitsterror bis in alle Ewigkeit fortgeschrieben werden soll – nach dem faschistischen Motto „Arbeit macht frei“ oder dem Rat John Maynard Keynes' folgend, es sei volkswirtschaftlich sinnvoller, die Erwerbslosen Löcher ausheben und wiederzuschütten zu lassen, als die Arbeitslosigkeit über die staatliche Wohlfahrt zu finanzieren.

Seit den 70er Jahren registrieren Arbeits- und Industriesoziologen einen Trend zur positiven Akzeptanz nützlicher Tätigkeiten in der Freizeit. Damit ist aber längst noch nicht gesagt, daß die Determinationskraft der Lohn- und Erwerbsarbeit für die Beschäftigten tatsächlich nachgelassen hat. Zwar ist das Verhältnis der Menschen zu den Arbeitswerten durch die Individualisierung der Lebensstile ambivalent geworden. Die Interpretation des Wertewandels als generelle Abkehr von der Erwerbsarbeit ist mehr als fragwürdig. So stieg nicht nur die Frauenerwerbsquote in allen Industrieländern deutlich an, die Integration der Frauen wurde zugleich als politische Forderung erhoben. Auch wer jahrzehntelang auf die Erwerbsarbeit als Selbstbestätigung abgerichtet und an deren Ausübung zur Sicherung des Lebensunterhalts gefesselt war, dem fällt es nach wie vor schwer, mit der gewonnen (Frei-)Zeit etwas Sinnvolles anzufangen. Nur so lassen sich die psychosozialen Deformationen wie Alkoholsucht, Verlust des Selbstwertgefühls oder Lethargie erklären, die jene gegen ihren Willen aus dem Arbeitsleben ausgegrenzten Personen regelmäßig befallen.

Dennoch läßt sich auch im Verhältnis zur Arbeit eine neue Verhaltensdisposition ausmachen, die von Pflichtmoral wie von Hedonismus gegenüber der Arbeit weit entfernt zu sein scheint und vor allem bei der gut ausgebildeten, über intellektuelle und kommunikative Fähigkeiten verfügenden jungen Generation von Angestellten zu finden ist: Sie legen persönliche Sinnkriterien an die Arbeit an, sehen darin die Chance, etwas Neues zu lernen und sich weiterzuentwickeln, kalkulieren aber auch sehr genau, wenn diese Ansprüche nicht erfüllt werden. Das gewachsene Interesse an Subjektivität in der Erwerbsarbeit zeigt auch, wie das Vergesellschaftungsprinzip der Arbeit langsam erodiert und sich eine (mentale) Hegemonie der konkreten über die abstrakte Arbeit ausbreitet – und dies um so mehr, je weiter sich der Handlungsspielraum beim Arbeiten erweitert. Eine inhaltliche Humanisierung und Demokratisierung des Produktionsprozesses selbst, die auf eine weitgehende Selbstbestimmung hinausläuft, könnte hier, trotz der Einwürfe von der Unvereinbarkeit mit der Logik des Produktionsapparats, mehr Autonomie in der Heteronomie schaffen.

Doch ob Befreiung der Arbeit oder Befreiung von der Arbeit: Es scheint, als wären die gesellschaftlichen Utopien diesseits wie jenseits der Erwerbsarbeit noch lange nicht erschöpft. Und Müßiggang muß dabei nicht aller Laster Anfang sein. Wie schrieb doch der Querdenker und Marx-Schwiegersohn Paul Lafargue in seinem „Recht auf Faulheit“: „Drei Stunden Arbeit täglich sind genug. Der Rest des Arbeitstages wird verschleudert an Überproduktion, an Häufung des Reichtums der Fabrikanten, Erschließung neuer unsinniger Absatzmärkte, Rüstung, Krieg und Zerstörung.“