Editorial

Ein Gespenst geht um in Europa: die Massenarbeitslosigkeit. 23 Millionen sind in Westeuropa ohne feste Arbeit, in Deutschland warten vier Millionen auf einen Job. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) spricht von der „schwersten globalen Beschäftigungskrise seit der Großen Depression“.

Die von Marktwirtschaft und Kapitallogik geprägte Erwerbsgesellschaft ist in eine tiefe Sinn- und Strukturkrise geraten. Hilflos stehen die Nachfahren von Adam Smith und David Ricardo der grassierenden Arbeitslosigkeit gegenüber. Voller Widersprüche sind ihre Konzepte und Methoden, mit denen den Industriegesellschaften ein neuer Modernisierungsschub verabreicht werden soll. Die Zauberworte kennt inzwischen jedes Kind: Deregulierung und Flexibilisierung, mehr Markt und weniger Staat. Doch der Arbeitslosigkeit ist damit nicht mehr beizukommen.

„Was uns bevorsteht“, warnte Hannah Arendt bereits vor dreißig Jahren, „ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht. Was also könnte verhängnisvoller sein?“ Seit der Vertreibung aus dem Paradies ist Erwerbsarbeit zur gesellschaftlich dominierenden Norm geworden, die eine Rückkehr zu anderen Werten wie Muße und Müßiggang genauso erschwert wie eine Aufwertung gesellschaftlich notwendiger und nützlicher Tätigkeiten, für die es keinnen Markt und keine Bezahlung gibt. Der plötzliche Verlust gewohnter wirtschaftlicher Sicherheiten wird vielmehr als Bedrohung der persönlichen Identität erfahren. Und da sich die politische Integration in erster Linie über den ökonomischen Erfolg vermittelt vollzieht, hinterläßt das Ende des Wirtschaftswunders ein gefährliches gesellschaftliches Identitätsdefizit.

Die Geschichte aber lehrt, daß gerade informelle Spielregeln, die über die Kultur vermittelt werden, sich nur schwer verändern lassen. Wirkliche Reformen, das haben nicht zuletzt die Transformationsbemühungen in Osteuropa gezeigt, dürfen sich nicht allein auf wirtschaftliche Fragen konzentrieren. Was wir brauchen, ist eine gesamtgesellschaftliche Vision, eine Reformperspektive, wie wir künftig leben und arbeiten, produzieren und konsumieren wollen. Was fehlt, ist allein die Phantasie und der Mut, darüber einmal nachzudenken, wie sich Arbeit und gesellschaftlicher Reichtum besser verteilen ließen. Muß man sich angesichts der sozialen Desintegration nicht ernsthaft fragen, ob eine Krisenbewältigung nach dem Motto „Hauptsache Arbeit“ noch möglich ist? Mit unserer Ausgabe zum Tag der Arbeit wollen wir Denkanstöße geben. Denn wie das Reformprojekt für das nächste Jahrhundert angepackt wird, davon hängt unsere Zukunft ab.Erwin Single