Koma billigend in Kauf genommen

■ Narkosefehler im Kreißsaal: Chefarzt des AK Heidberg wegen schwerer Körperverletzung verurteilt Von Lisa Schönemann

Gegen den Chefarzt und Geburtshelfer Prof. Claus P. ist gestern vom Hamburger Amtsgericht eine unerwartet hohe Strafe verhängt worden: Der 53jährige Mediziner wurde wegen schwerer Körperverletzung zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Er habe, so das Urteil, nicht verhindert, daß eine 35jährige Patientin nach einer Narkose im Kreißsaal bewußtlos geworden ist. Sofern das Urteil rechtskräftig wird, gilt er als vorbestraft. Die Frau, die im Mai 1991 zur Entbindung ins AK Heidberg gekommen war, liegt noch heute im Koma. Ihr Sohn kam nach einem Notkaiserschnitt stark behindert zur Welt.

Der Arzt war nachts in den Kreißsaal gerufen worden, als die Patientin unter der Geburt um Schmerzmittel bat. Der Mediziner setzte ihr eine rückenmarksnahe Betäubungsspritze. Diese gängige Peridural-Anästhesie wird in allen Hamburger Frauenkliniken angewandt. Freilich nicht von Narkosefachärzten, sondern von den Gynäkologen selbst. Aus wirtschaftlichen Gründen wird (außer im UKE) nicht eigens ein Anästhesist gerufen. Dies hatte im vorliegenden Fall gravierende Folgen.

Die Patientin verspürte ein leichtes Kribbeln in den Händen, dann klagte sie über Atembeschwerden. In diesem Moment hätten nach Übereinstimmung aller Sachverständigen Notfallmaßnahmen eingeleitet werden müssen. Wenig später erlitt die Frau einen Atemstillstand. Das Betäubungsmittel hatte offensichtlich nicht nur im Beckenraum gewirkt, sondern auch das Atemzentrum lahmgelegt.

Warum der Arzt wertvolle Zeit verstreichen ließ, bis er im Verbund mit seinen Assistenten eine Herz-Druck-Massage durchführte und eine künstliche Beatmung veranlaßte, konnte vor Gericht nicht erschöpfend geklärt werden. Die Risiken der Narkoseform waren ihm ebenso geläufig wie die Tatsache, daß es bei einer derartigen Komplikation um Sekunden geht.

Chefarzt P., der seinen Blick während der gesamten Verhandlung auf den Boden geheftet hatte, vermochte den bohrenden Fragen der Amtsrichterin nichts zu entgegnen: „Ich weiß es nicht“, lautete seine karge Rechtfertigung. Und: „Ich habe große Schwierigkeiten, um Vergebung zu bitten.“

Amtsrichterin Gudrun Stöhr entschied sich zu einem ungewöhnlichen Schritt: Dem Arzt wurde bei der Strafzumessung nicht fahrlässiges, sondern bedingt vorsätzliches Handeln unterstellt. Das Gericht geht davon aus, daß er die Sauerstoffunterversorgung von Mutter und Kind „billigend in Kauf genommen“ hat, um eigene Unzulänglichkeiten zu verdecken. Dazu findet sich jedoch im Prozeß kein Hinweis. Die Staatsanwaltschaft hatte wegen fahrlässiger Körperverletzung neun Monate Haft auf Bewährung, die Verteidigung Freispruch gefordert. Der Verurteilte muß eine Geldbuße von 36.000 Mark entrichten und 100.000 Mark Schadensersatz zahlen. Außerdem hat er mit einschneidenden berufsgerichtlichen Folgen zu rechnen.