Treber-Hafen in Lichtenberg

■ Die "Villa Störtebeker" ist eine zentrale Anlaufstelle für obdachlose Jugendliche / Immer mehr ostdeutsche Straßenkinder hauen von zu Hause ab

Eine richtige Baustelle ist der Hinterhof der „Villa Störtebeker“, eines Heims für jugendliche Trebegänger in Ostberlin. Enrico, gerade 18 Jahre alt geworden, zeigt mit strahlendem Gesicht auf das Obergeschoß des Altbaus im Bezirk Lichtenberg. Gemeinsam mit seinen Kumpels, erzählt er stolz, will er seine neue Bleibe demnächst auf Vordermann bringen. Nach einem Jahr auf der Straße hat Enrico endlich wieder ein festes Dach über dem Kopf, jetzt schmiedet er große Pläne für die Zukunft.

Er ist eines von 3.000 Straßenkindern, die der Frust im ostdeutschen Provinznest von zu Hause weggetrieben hat. Die meisten sind in den Wirren der Nachwendezeit nach Berlin gekommen – gerade die Anonymität der Hauptstadt der DDR wirkte auf sie wie ein Magnet. So ist auch der 15jährige Kai aus Zerbst bei Magdeburg vor zwei Monaten in der „Villa Störtebeker“ gelandet, nachdem er sich fast drei Jahre lang in Hamburg, München und anderen Städten aufgehalten hatte.

„Halb weggelaufen, halb rausgeworfen worden“ sei er von zu Hause, vor allem, weil er mit seinem Vater nicht zurechtkam: „Wir haben uns nicht verstanden.“ Was er in der Zeit auf Trebe alles unternommen hat, erzählt Kai nicht so gerne. „Autos knacken und solche Sachen“, gibt er nach einigem Zögern schüchtern zu. Doch es ist keineswegs pure Abenteuerlust, die immer mehr ostdeutsche Kids auf die Straße treibt. Die Jugendlichen, die in die „Villa Störtebeker“ kommen, seien alle „ein bißchen wendegeschädigt“, meint Sozialarbeiterin Kerstin Siefert. Zu DDR- Zeiten habe es bei weitem nicht so viele Ausreißer wie derzeit gegeben. Damals sei es nicht so leicht gewesen, „von zu Hause abzuhauen, ohne daß es jemand merkt“. Das repressive Erziehungssystem des SED-Staates sperrte die Trebegänger meist in die sogenannten Jugendwerkhöfe.

Heute geht es Jugendsenator Thomas Krüger (SPD) gar nicht darum, die Ausreißer partout von der Straße zu holen. Er wünscht sich ein „möglichst differenziertes Angebot“, das die Stricher vom Bahnhof Zoo ebenso erreicht wie jene, die feste Jobs und eine Bleibe suchen. Neben Cafés wie „Drugstop“ und „Nestwärme“ haben einige freie Träger Anlaufstellen eingerichtet, in denen die Kids für ein paar Stunden unterkommen und sich eine billige Mahlzeit abholen können. Wer eine feste Bleibe sucht, muß sich zunächst mit einem der Übergangsheime wie der „Villa Störtebeker“ arrangieren. Die dortigen Betreuer verlangen von den Kids, daß sie immer dort übernachten und an den Versammlungen teilnehmen.

Doch für einen, der jahrelang auf der Straße unterwegs war, ist das Einhalten derartiger Reglements keine Selbstverständlichkeit. Wer es dennoch packt, kann auf einen Heimplatz oder ein Zimmer in einer der 66 Wohngemeinschaften für nichtseßhafte Jugendliche hoffen.

Das neueste Berliner Treber- Projekt ist die Straßenzeitung „Zeitdruck“. In der ersten Nummer wird der Leiter eines Jugendknastes interviewt und werden Gedichte in krakeliger Handschrift veröffentlicht. Anstatt zu betteln, können sich die Kids ihr Geld jetzt selbst verdienen. Denn von den zwei Mark, die der „Zeitdruck“ kostet, geht die Hälfte direkt in die Kasse der jungen Straßenverkäufer. Jürgen Petzold (AFP)