Nebenabsichten nicht ausgeschlossen

In Italien setzt die Regierung auf Versöhnungspolitik. Hafterleichterungen für linke Terroristen könnten jedoch auch als Vorbereitung einer Amnestie für alle korrupten Politiker dienen  ■ Aus Rom Werner Raith

Das Signal war präzise und für viele recht unerwartet: „Natürlich“, befand der Chef der nun mitregierenden neofaschistischen Partei MSI und Leiter der nationalistischen Sammelbewegung „Alleanza nazionale“, Gianfranco Fini, „natürlich gilt unsere Offerte ausnahmslos für alle – auch für die Mitglieder des einstigen ,Bewaffneten Kampfes‘“. Die „Offerte“ besteht in einer angeblich flächen- und schichtendeckenden „nationalen Wiederversöhnung“, mit der Fini seit Monaten hausieren geht: Partisanen sollen sich mit Faschisten vertragen, Linke mit Rechten, Katholiken mit Atheisten, eben alle mit allen, mit denen sie vordem gestritten, gegen die sie gekämpft, geschossen, gebombt haben. Silvio Berlusconi, designierter Ministerpräsident, nickte dazu ebenfalls: als gewiefter Unternehmer weiß er, daß „ein Betrieb um so besser läuft, je harmonischer die Leute zusammenarbeiten“, also will er die versprochene Runderneuerung des Landes auf möglichst breiter und harmonischer Basis in Angriff nehmen.

Die es hören sollten, hörten es wohl – dankbar nahmen die Mitglieder des Gründungskerns der Roten Brigaden ebenso wie viele einsitzende Kombattanten die Botschaft wahr: Alberto Franceschini, der zusammen mit Renato Curcio und Mara Cagol die Roten Brigaden gegründet hatte, verfiel gar in einen echten Dialog mit den rechten Versöhnern.

Und prompt spurten auch schon die Gerichte: Am vergangenen Wochenende bekam der als Mörder des 1978 nach 55 Tage währender Entführung erschossenen christdemokratischen Parteipräsidenten und fünfmaligen Regierungschefs Aldo Moro und seiner Eskorte zu dreimal lebenslänglich verurteilte Prospero Gallinari Haftverschonung. Ein Jahr lang soll er in Freiheit seine gesundheitlichen Beschwerden auskurieren, danach will man weitersehen. Eine überraschende Geste – dreimal hatte der bei seiner Festnahme lebensgefährlich am Kopf verletzte heute Fünfzigjährige im Gefängnis einen Herzinfarkt erlitten, zweimal mußte ihm ein Bypass eingesetzt werden, doch selbst die Verlegung in eine Spezialklinik hatte man ihm bisher verweigert. Jetzt, im Zeichen der Rechtswende, geht es plötzlich.

Eine echte Abkehr von der noch vom Antiterror-Hardliner Sandro Pertini in seiner Zeit als Staatspräsident 1978-85 festgeklopften Linie, wonach es mit Menschen, die „soziale Ziele mit dem Gewehr und dem Sprengstoff verfolgen, niemals eine Aussöhnung geben kann“? Immerhin hatte sich auch noch Pertinis Nachfolger Cossiga 1991 eine dicke Beule geholt, als er den wegen einer Bluttat zu neunmal lebenslänglich verurteilten Renato Curcio nach fast 20 Jahren Gefängnis auf Bewährung freilassen wollte. Dagegen hatten sich die Sozialisten gestemmt, die doch ansonsten so sehr gegen die „Linie der Intransingenz“ gewettert hatten. Aber Umfragen hatten seinerzeit noch signalisiert, daß man mehr Stimmen mit Terroristenhatz denn mit Versöhnungsgesten bekommen konnte.

Nunmehr ist dies anders. Die nach einem halben Jahrhundert politischer Isolation auf gesellschaftliche Anerkennung drängende äußerste Rechte möchte ihre Basis so schnell wie möglich verbreitern, und da sind Linke gleich welcher Couleur fast noch wichtiger als die sowieso benachbarten Erzkonservativen der Democrazia cristiana: Wichtig ist, daß sie zu Sympathie-Distributoren werden können. Dafür spricht auch die Tatsache, daß die Freilassungsaktionen bis heute vor allem die Top-Leute der Roten Brigaden oder der Prima linea betreffen. Zahllose Mitläufer dagegen müssen wegen oft fast lächerlicher Taten (wie Unterbringung eines Terroristen für ein paar Nächte in der eigenen Wohnung) ihre Strafe von oft sieben oder zehn Jahren gnadenlos absitzen.

Doch auch hinsichtlich der Aussöhnungsgesten gegenüber den „Großen“ der vergangenen gesellschaftlichen Militanz zeigt sich bei genauerem Hinsehen ein nicht zu unterschätzender Hintersinn. So ganz allmählich soll die Öffentlichkeit wohl auf eine generelle Amnestie vorbereitet werden – eine Art Schwamm über alles, was vor dem Arbeitsbeginn der neuen, der rechten Regierung lag. Und da ist allerhand abzuschwemmen: Ganze Heerscharen von korrupten Politikern sowie von bestechenden Unternehmern und Managern stehen noch zur Aburteilung, manche (wie die einstigen Ministerpräsidenten Craxi und Andreotti, Forlani und De Mita) mit der Aussicht auf ein halbes oder ganzes Dutzend Jahre Knast oder gar noch mehr. Ganz im Sinne populistischer Regime etwa in Südamerika scheinen Italiens Rechte mit der Geste einer Leerung von Gefängnissen und Untersuchungshaftzellen ihren Willen zum „Neuanfang“ manifestieren zu wollen. Schon zeigen sich nicht nur vordem herrschende Parteifürsten wie der 1992 abgehalfterte Christdemokrat Forlani (Straferwartung: fünf Jahre) immer Berlusconi-freundlicher, sondern auch allerhand Unternehmer, wie etwa die Spitze des Hauses Fiat. Sie hatte den Mailänder Medienherrscher im Wahlkampf heftig bekämpft, doch da ein halbes Dutzend Manager des Konzerns, darunter der oberste Chef Cesare Romiti unter Anklage stehen, zieht man es vor, die Seiten zu wechseln.

Über den eigentlichen Sinn dieser Harmonisierungspolitik sind sich mittlerweile auch die weitsichtigeren Teile der italienischen Experten klar. Weder Il manifesto, das sich doch seit jeher besonders für die einsitzenden Polithäftlinge stark gemacht hat, noch die dem Thema ebenfalls immer sehr aufmerksam gegenüberstehende La Repubblica und andere linksliberale Blätter widmeten der Freilassung Gallinaris eine Titelzeile, geschweige denn einen zustimmenden Kommentar: der Auszug des Rotbrigadisten aus dem Gefängnis wurde durchwegs nur auf den hinteren Seiten, ganz unten und in einem Viertel- oder allenfalls Drittelspaltenkasten „gemeldet“.