Einfach und köstlich zugleich

Gerhard Henschels Panorama des linken Kitsches  ■ Von Jörg Lau

Nein, leider muß das hierher. Auch wenn's nachher wieder heißt ... Denn so steht's geschrieben im neuen Buch von Christa Wolf; mit diesen Sätzen ihrer Rede „Zur Sache: Deutschland“ klingt „Auf dem Weg nach Tabou“ aus, eine Sammlung aus den letzten vier Jahren: „Als wir überlegten, worauf wir Deutschen stolz sein könnten, was es bei uns besonders Gutes gebe, sagte mein vierzehnjähriger Enkelsohn, der gerade zwei Wochen in den USA gewesen war: Das Brot, das in Deutschland gebacken wird. Wir lachten, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr war ich mit dieser Antwort zufrieden. Brot als archaisches Symbol und in seiner alltäglichen Konkretheit, als das Lebensmittel, ein sinnlicher Genuß, dessen man nie überdrüssig wird, einfach und köstlich zugleich. Das sättigt, das duftet, das schmeckt, ein Augenschmaus auch in seiner Farbe, in seinen vielfältigen Formen. Das regt, zusammen mit Wein, zum Gespräch an, zu Vertrautheit, Freundschaft, Gastfreundschaft. Das würde mir gefallen, und auch das gibt es ja: Deutsche aus verschiedenen Himmelsrichtungen, die miteinander arbeiten, Projekte entwickeln, die sich dann um den Tisch setzen, miteinander reden, auch streiten, essen, gemeinsam die Suppe auslöffeln, die sie sich eingebrockt haben. Das Brot auf den Tisch legen, das sie aus ihren verschiedenen Landschaften mitgebracht haben, es einander zu kosten geben und es gerne und großzügig mit anderen teilen.“

Uff! Über die bäckerblumenhafte Beschwörung der guten alten Klappstulle als „Augenschmaus“ – ein Wort, das schon ein wenig muffig duftet und schmeckt – hätte man ja noch hinwegblättern können. Wenn dann aber noch ein guter Tropfen die Vision von einem Abendmahl (Vgl. Mat. 26, 26-29; Mar. 14, 22-25; Luk. 22, 14-20) aller Deutschen aus ihren verschiedenen „Landschaften“ (warum nicht „Gauen“?) abrundet, ein Abendmahl, bei dem Christa (!) Wolf am höchstwahrscheinlich Runden Tisch Emmaus-mäßig die Schrippen bricht (Vgl. Luk 24, 30-32) und ihre Gesammelten Schriften erklärt, dann wenden wir uns doch peinlich berührt ab.

Verschiedene Gesänge zur Laute

Und der einschlägigen Literatur zu. Herrmann Broch zum Beispiel, der als erster systematisch über „das Problem des Kitsches“ gearbeitet hat. Für den Kitschfeind Broch stand fest, daß es sich hier nicht um reine Geschmacksfragen handelt: „Wer Kitsch erzeugt, ist nicht einer, der minderwertige Kunst erzeugt, er ist kein Nichts- oder Wenigkönner, er ist durchaus nicht nach den Maßstäben des Ästhetischen zu werten, sondern er ist kurzerhand ein schlechter Mensch, ein ethisch Verworfener, ein Verbrecher, der das radikal Böse will.“ Brochs Paradebeispiel für den Kitschmenschen ist „Nero, zum Feuerwerk der brennenden Christenleiber die Laute schlagend“. Er hatte 1933, als seine Thesen entstanden, natürlich den „Kitsch- Anhänger Hitler“ dabei im Visier. Wir dürfen in diesem Zusammenhang wohl auch an den futuristischen Technikfetischismus und an Ernst Jünger denken, an die Ästhetisierung des Schreckens der „Stahlgewitter“. Und weiter an Botho Strauß, der sich vorerst noch mit vergleichsweise milden Formen von „Todeskitsch“ (S. Friedländer) begnügt; aber ganz schweigen mochte seine Laute zum Feuerwerk der brennenden Türkenleiber eben nicht, und so stimmte er seinen „Bocksgesang“ an, der Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu „,gefallenen‘ Kultleidenschaften“ herabmoderierte, „die ursprünglich einen sakralen, ordnungsstiftenden Sinn hatten“.

Diese Sorte Kitschiers und ihre Produkte kennen wir; aber was ist mit der Sorte Kitsch, mit der wir es im eingangs zitierten Falle zu tun haben, mit dem Kitsch der guten Menschen? Die immer noch wg. „Mauer in den Köpfen“ ausstehende innere Einheit der Deutschen im goldenen Licht der christlichen Erlösungssymbolik von Brot und Wein hoffnungsfroh am Horizont erglänzen zu lassen – wie konnte Christa Wolf bloß auf solch bombastischen Stuß verfallen?

„Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache“, hatte sie noch am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz behauptet. Zweifel erlaubt. Eine Trouvaille, die der Titanic-Redakteur Gerhard Henschel seinem Panorama „Das Blöken der Lämmer. Die Linke und der Kitsch“ eingefügt hat, belegt das. Sie stammt aus den Schriften von Ché Guevara: „Vor dem machtvollen Beginn unseres Kampfes erzittern die Regierungsclique und ihr Herr, der Yankee- Imperialismus ... Wir werden nicht ruhen, bis nicht die letzte Spur imperialistischer Herrschaft getilgt ist, bis nicht das Glück, der Fortschritt und das Wohl des ruhmreichen bolivianischen Volkes triumphieren.“

Das mag ja noch angehen. Aber die Liebe, zumal die zu einem ganzen Volk, ist zuweilen ein wunderlich Ding; der bolivianische Befreiungskampf, heißt es weiter, „ist das fiebererregende Beispiel eines Volkes, das bereit ist, sich im Atomkrieg zu opfern, damit noch seine Asche als Zement diene für die neue Gesellschaft.“ Was Männern auf verlorenem Posten – ob im Schützengraben an der Westfront oder im bolivianischen Dschungel – aber auch immer so einfällt! Nein, nicht jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Eine Gruppe namens TKP/ML zum Beispiel, Kreuzbergern von zahlreichen Brandmauer- Graffiti bekannt, pflegt zur Sprache ein nicht viel besseres Verhältnis als der Yankee-Imperialismus zum bolivianischen Volk: „Setzt Himmel und Erde in Bewegung, um das Leben des Vorsitzenden Gonzalo zu retten.“ So werben die Genossen für einen überführten Verbrecher, einen Drogen- und Waffenschieber im großen Stil.

Aber der linke Kitschier tritt heutzutage nur selten martialisch auf; vorbei die Zeiten, als weiße Jungs sich durch die Lektüre der „Gesetze der Black Panther Partei“ einen wohligen Schauder verschafften: „§16. Alle Panther müssen lernen, ihre Waffen ordentlich zu pflegen und zu bedienen.“ (Verdammt taffe Jungs, die sich dergleichen auferlegen müssen: „§7. Kein Parteimitglied darf eine Waffe besitzen, solange es betrunken ist oder unter Drogeneinfluß steht.“) Nein, eigentlich waren schimmernde Wehren aller Art nie sein Metier. Das zeigte sich zu Zeiten der Friedensbewegung in den frühen Achtzigern. Peter Härtling war es, der den Zeitgeist in Verse faßte; hier zitiert, damit deutlich wird, was Henschel auf sich nahm, um sein schreckliches kleines Kitschkabinett zu bestücken:

Wenn jeder eine Blume pflanzte,

jeder Mensch auf dieser Welt,

und, anstatt zu schießen, tanzte

und mit Lächeln zahlte statt mit

Geld –

wenn ein jeder einen andern

wärmte,

keiner mehr den andern schlüge,

keiner sich verstrickte in der Lüge,

wenn die Alten wie die Kinder

würden,

sie sich teilten in die Bürden,

wenn dies WENN sich leben ließ,

wär's noch lang kein Paradies –

bloß die Menschenzeit hätt'

angefangen,

die in Streit und Krieg uns beinah

ist vergangen.

Vor dem Hintergrund solcher auch mit dem breitesten Lächeln nicht mehr bezahlbarer Lyrik nimmt sich die letzte Nachricht aus dem Hause Härtling ganz schön frech aus: Kürzlich weigerte sich der Spitzenpoet, dem Spitzenkandidaten bei der Vorbereitung der Menschenzeit zu helfen, die ja nach dem Sieg über die Regierung Kohl noch in diesem Herbst zeitgleich mit der Ära Scharping, mit dem Paradigmenwechsel von Birne zu Ziege, beginnen soll. Begründung: Zu Scharping, dem Langweiler, falle ihm einfach nichts ein. Nicht der schwächste Grund, im Herbst SPD zu wählen. Was allerdings wieder gegen ein solches Votum spricht, ist die alte Freundschaft zwischen Scharping und Konstantin Wecker, der in Henschels Panoptikum natürlich nicht fehlen darf. Schade eigentlich, daß sich Härtling und Wecker nun aller Voraussicht nach doch nicht auf der SPD-Wahlparty begegnen werden, denn das könnte, wie Henschels Funde belegen, der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden: will der lyrische Trickbetrüger mit Lächeln statt mit Geld bezahlen, so lesen wir im autobiographischen Roman („Uferlos“) des designierten Bundesliedermachers, er sei „unendlich geil auf alles, was lächelt. Ja, mir wird so richtig schön übel vor Geilheit.“ Ein Traumpaar!

Der Ständer des Jahrhunderts

Was Wecker mit seiner üblen Geilheit, mit dem „Ständer des Jahrhunderts“ schon alles angefangen haben will, kann aus Rücksicht auf die Abonnentenschaft dieser Zeitung, die bekanntlich stets mit dem Finger am Abzug liest, leider nicht zitiert werden. Schade eigentlich, denn angefeuert von Weckers Prosa voller Fett und Samenstränge („rieb mir den Penis wund“) könnten wir gemeinsam Machismo, Sexismo und Patriarchat einfach „totlächeln“ (Antje Vollmer). Gut, lassen wir's halt bleiben. Aber dann gehört wenigstens dieses Gedicht von F.W. Bernstein hierher; dreimal täglich eingenommen, ist es ein wirksames Antidot gegen den Wolf Wondratschek in dir:

WARNUNG AN ALLE!

In mir erwacht das Tier.

Es ähnelt einem Stier.

Das ist ja gar nicht wahr,

in mir sind Tiere rar.

In mir ist's nicht geheuer,

da schläft ein Zuckerstreuer.

Und wenn der mal erwacht,

dann Gute Nacht!

Das Sexualprotzentum scheint bis auf weiteres eine männliche Domäne zu bleiben. Eine allgemeine Disposition zur Selbstverkitschung scheint jedoch traumwandlerisch gerecht quotiert unter die Geschlechter verteilt worden zu sein. Während Wecker uns mit seinem „gierigen Glied“ winkt, zeigt uns die französische Psychoanalytikerin Luce Irigaray, in der postmodernen Literaturtheorie von einigem Einfluß, stolz ein beflecktes Laken: „Das Blut ist uns geläufig vertraut. Das Blut: nah. Du bist ganz rot. Und so weiß. Du bist rein, weil du dich nicht vom Blut entfernt hast.“ Männer sind bekanntermaßen alles andere als rein; die Emma vom Januar dieses Jahres klärte die Leserschaft über den Zusammenhang von Patriarchat und Tierverachtung auf.

Alice Schwarzer zeigte sich katzenkraulend und dekretierte: „Respekt vor dem anderen ist unteilbar. Wer diesen Respekt nicht vor dem Tier hat – und zwar vor jedem Tier! auch vor Ratten und Kakerlaken! – der hat ihn auch nicht vor dem Menschen.“ Von den „Schrecken der Nahrungsketten“ (Norbert Elias), in denen die Tierwelt sich reichlich respektlos reihenweise verzehrt, will Frau Schwarzer freilich nichts wissen. Außerdem: Ratten und Kakerlaken respektieren, das ist doch keine Kunst! Aber an die häßliche kleine Hausstaubmilbe denkt natürlich wieder keiner; sie wird brutal und gedankenlos – auch von Frauen! – weggesaugt und auf den Müll geworfen.

Beziehungen von fontanescher Heiterkeit

Das Spektrum des in dieser handlichen Enzyklopädie versammelten und durchgearbeiteten Materials reicht von Erich Fromms Empfehlungen für eine „körperliche Beziehung ohne Gier“ über Rudolf Bahros Vision eines „ökologischen Gottesstaates“ zur höheren Ehre der „Göttinmutter Erde“ bis zu Günter Grass' Frage an den „Papst, polnischer, vielgereister, sichtbar an dieser Welt und ihren Mißständen leidender, Wojtyla! Darf man Du zu Dir sagen?“; es reicht von Walter Jens' unbescheidener Selbstdarstellung als Mensch von „fontanescher Heiterkeit“ bis zu Wolf Biermanns sturzbesoffen- sentimentaler lyrischer Ranschmeiße an einen weiland Generalsekretär der KPdSU („Oj, oj Gorbi/, Alter mach nicht schlapp / Brauchste noch paar Kräfte / ick jeb dir wat ab“).

Henschel weiß zum Glück meist den Ton einer Abrechnung zu vermeiden. Die wenigen Male, wo sich dieser Ton doch einschleicht, soll man gnädig übergehen: Es mag angehen, das Kompensatorische der Weltgesundbeterei herauszustreichen. Das Kitschschaffen ist aber doch nicht, wie sein Dokumentar gelegentlich zu glauben scheint, durch Hinweis auf seine politische Ohnmacht zu diskreditieren. Den Standpunkt des Ungerührten, der leicht säuerlich darauf verweist, daß sich sowieso nichts ändert, so laut die Guten auch tuten mögen, wollen wir doch lieber den echten Reaktionären aus Berufung überlassen.

Aber das sind Kleinigkeiten, die vor dem Verdienst des listigen Lumpensammlers Henschel verblassen: Es liegt nicht darin, ein für allemal geklärt zu haben, was Kitsch sei und wie man ihn vermeiden könne. Das ist auch ganz unmöglich, wie Theodor W. Adorno wußte, der sich in seiner „Ästhetischen Theorie“ viel mit dem Verhältnis von Kunst und Kitsch beschäftigt hat: „Als Giftstoff ist er [der Kitsch] aller Kunst beigemischt; ihn aus sich auszuscheiden, ist eine ihrer verzweifelten Anstrengungen heute.“

Gerhard Henschel hat sich mit seiner kleinen Studie in diesem Sinne also sehr um die Förderung des Stoffwechsels verdient gemacht.

Gerhard Henschel: „Das Blöken der Lämmer. Die Linke und der Kitsch“. Mit einem Nachwort von Eckhard Henscheid. Edition Tiamat, 176 Seiten, 26 DM

F.W. Bernstein: „Der Dinggang“. Edition Lyrik im Verlag Landpresse, 36 Seiten, Büttenpapier, Fadenheftung, 25 DM (Kontakt: Ralf Liebe, Kölner Str. 58, 53919 Weilerswist)

Christa Wolf: „Auf dem Weg nach Tabou. Texte 1990–1994“, Kiepenheuer & Witsch, 344 Seiten, geb., 38 DM