■ Bücher. klein
: Angegriffen

Wenn Historiker dereinst die politischen Gewaltverhältnisse im Kontext der deutsch- deutschen Einigung erforschen sollten, können sie auf umfangreiches Quellenmaterial zurückgreifen, ja, eine kaum noch zu überbietende Wissenschaftsindustrie hat sich da etabliert. Allerorten wird über die Motive, biographischen Hintergründe und Wehwehchen der Täter geforscht. Wenig werden sie allerdings zu der Frage finden, wie denn die angefeindeten Gruppen – Immigranten, Sinti und Roma, Schwule, Obdachlose, Behinderte und Juden – in den neunziger Jahren lebten. Diese Lücke schließt der von Herbert Beckmann herausgegebene Band „Angegriffen und bedroht in Deutschland“. Beckmann gelingt es, dem vielfach entpersonalisierten Bild „der Opfer“ ein Gesicht zu geben, ohne auf das übliche Verfahren, nämlich voyeuristische Bedürfnisse zu befriedigen, zurückzugreifen. Die „Opferperspektive“ ist nicht der Endpunkt der Porträts und Berichte, sondern Ausgangspunkt für notwendige gesellschaftspolitische Veränderungen. Safter Cinar, Vorstandsmitglied des „Bundes der EinwanderInnen aus der Türkei in Berlin-Brandenburg“ (BETB), warnt eindringlich davor, daß die rassistische Gewalt auch auf seiten der Opfer antidemokratische Tendenzen fördert und türkisch-chauvinistische und islamisch-fundamentalistische Strömungen stärken könnte. Dem setzt er im Forderungskatalog „Für eine realistisch politische Wende: Gleiche Rechte und ein Einwanderungsgesetz“ die Herausforderungen entgegen, denen sich unsere Gesellschaft zu stellen hat.

Welcher der skizzierten Optionen – der türkisch- chauvinistischen oder der freiheitlich-demokratischen – sich die Freundschaftsclique 20 Girls künftig zuwenden wird, ist noch offen. Auf alle Fälle erschwert die verbreitete Angst vor Neonazis und Skinheads für die 13- bis 16jährigen Mädchen den Kampf um Emanzipation: „Unsere Eltern lassen uns nicht raus.“

„Angegriffen und bedroht in Deutschland“ gerät auch zu einer Anklage der bundesdeutschen Polizei. Berichte über Ordnungskräfte, die sich in der Diskriminierung der Minderheiten offensichtlich leichter tun als mit dem Schutz von Flüchtlingswohnheimen, ziehen sich wie ein roter Faden durchs Buch. Wo das staatliche Gewaltmonopol auf Tauchstation geht und dessen eigentliche Garanten sich ähnlicher Methoden wie die Neonazis bedienen, ist Selbstschutz der einzig gangbare Weg. Wie dieser auch unter schwersten Bedingungen organisiert werden kann, darüber informiert das Buch ebenso wie über individuelle Bewältigungsstrategien gegen Rassismus. Eberhard Seidel-Pielen

Herbert Beckmann (Hrsg.): „Angegriffen und bedroht in Deutschland. Selbstzeugnisse, Berichte, Analysen“. Deutscher Studien Verlag, Weinheim 1993. 221 Seiten, 34 DM