Nach Feier- abend

Späte Ikonen eines frühen Modernisten: Paul Strands Fotografien 1950–1976 im Folkwang-Museum  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Nichts ist in der Moderne so ertragreich wie der Ruf, zu den Frühen gehört zu haben, den Allerersten – so mühen sich die Apologeten um Tschichold noch, als er längst zur typographischen Tradition zurückgekehrt ist, loben Duchamp für sein Nichtstun und bewundern das New Bauhaus für seine Altersstarre. Auch Paul Strand gehört zu ...

Wer Paul Strand ist? Ja, haben Sie denn nicht die großen deutschen Retrospektiven wichtiger amerikanischer Fotografen verfolgt: Lewis Hine, Walker Evans, Diane Arbus, Robert Frank – und Paul Strand? Dann wüßten Sie ...

Aber Scherz beiseite. Die Retrospektive von Robert Frank wird im nächsten Sommer in Zürich und später Amsterdam zu sehen sein – immerhin, die anderen hat es nicht gegeben. Van Gogh, Picasso, Manet rauf und runter, eine systematische Präsentation wichtiger Fotografen gibt es in Europa nicht. Die Retrospektive William Henry Fox Talbots, des Erfinders des Negativverfahrens, im Jahre 150 „der Fotografie“ – vor fünf Jahren – ist folgenlos versackt.

Um so mehr muß es wunderlich stimmen, wenn Paul Strand nun gerade mit seinen europäischen und afrikanischen Fotografien gezeigt wird. Strand, der sich mit wenigen Bildern zwischen 1914 und 1917 einen Namen gemacht hatte, gilt als einer dieser frühen Modernisten, und die Ausstellung in Essen zeigt einige Beispiele: „Gähnende Frau“, ein körniges, gelbliches, in Nähe und Anschnitt schroffes Portrait, oder „Von der Hochbahn“, eine nach links aus dem Bild stürzende Hochhauslandschaft, deren Clou ganz traditionell in der Bildmitte liegt. Sie ist nämlich fast vollständig dunkel.

Ein krasses Bild von Armut, ein gewagter Blick in den Fortschritt: so sehen sie eben aus, die frühen Ikonen der Moderne. Die späten Ikonen des Modernisten sehen anders aus. Es sind überraschend konventionelle Reisefotografien: sinistre Portraits, beschauliche Aus- und Einblicke, betuliche Annäherungen an die Dinge des Alltags. Was gezeigt wird, ist ein umfangreiches Konvolut von Fotografien, die meisten davon handwerklich mit äußerster Präzision gemachte Prints (auch sie müssen aufwendig zusammengeliehen werden wie andere Bilder), die letztlich aus Buchprojekten stammen.

Die Textautoren kommen, auf Tafeln, auch zu Wort. So schrieb Claude Roy über den amerikanischen Fotografen in Frankreich, er habe sich nicht genötigt gefühlt, „ein Bild von der unvermeidlichen Pernodflasche zu machen oder von den Frauen mit der schwarzen Haube, dem Mann mit dem Schnurrbart und Baskenmütze oder von sonst irgend etwas in Frankreich, das jemand vom anderen Ende der Welt einmalig oder als etwas Besonderes erscheinen könnte“:

Aber was zeigt wohl „Alte Fischer II“, 1950, anderes als vier alte Männer auf einer Bank, davon drei mit mächtigen Baskenmützen, einer mit gefalteten Händen, einer die Hände über der Brust verschränkt etc.; und was ist wohl das nächste Bild, „Tür zum Holzschuhmacherladen“ aus dem gleichen Jahr anderes als ein ziemlich unvermeidliches Genre-Bild mit Kätzchen, Topfplanzen und wildem Wein, der den akkuraten kleinen Schwarzweiß-Print von oben einrahmt?

Natürlich ist Paul Strand kein Postkartenfotograf aus der Kitschschule. Da wiegen sich keine Gräser im Vordergrund, und es gibt keine gotischen Fenster im Gegenlicht. Auch finden sich bei ihm gewisse psychologische Stereotype nicht, die lustig lachenden Paare, das vor sich hin träumend spielende Kind. Und doch spricht aus diesen Bildern, bis in ihre Titel, eine Verschrobenheit, die sich das Mäntelchen des Archaischen übergeworfen hat. Eine Pflanzenstudie aus dem Garten in Orgeval bei Paris, wo das Ehepaar Strand seit 1951 wohnte, zeigt eine Gruppe von zehn hellen (ich glaube) Dahlien, die in einem dunklen Schlupfwinkel beinander stehen, von oben gesehen: „The Happy Family“. Was Strand sucht, im eigenen Garten und anderswo, ist letztlich eine heile Welt.

Nicht, daß die Ausstellung das verschweigen würde, und auch ihr Titel, „Die Welt vor meiner Tür“, deutet an, daß es nicht um Katastrophen geht. In Europa, erläutert eine Texttafel, „begann für Paul und Hazel eine Zeit des Reisens, immer auf der Suche nach ,dem perfekten Dorf‘ – in dem Menschen, getragen von harter und ehrlicher Arbeit, in Harmonie mit der Natur und selbst der Technik lebten. Mit seinen beachtenswerten Fotoserien über Frankreich, Italien, die Hebriden, Rumänien, Marokko, Ghana und Ägypten (...) versuchte Strand, etwas wie Kulturportraits zu schaffen, durchdrungen von einem zeitlosen Gefühl von Gemeinschaft.“

Strand ist 1890 in New York City geboren und dort aufgewachsen. Er hat alle Signale der modernen Industriegesellschaft vor Augen gehabt: die Massen, die Beschleunigung, das Elend, die erste Skyline. Nicht von ungefähr gehört Strands Bild der „Blind Woman“ zu den bekanntesten Bildern der Fotogeschichte. Es zeigt nicht nur in dramatischer, dichter Form ein spezifisches Schicksal, sondern es macht gleichzeitig deutlich: Das Schicksal blickt nicht zurück. Was auch immer man sagen will, es bleibt ein Bericht darüber, wie die andere Hälfte lebt. Die Medien gehören zum Terrain derer, die sie bedienen und lesen können.

Gäbe es für Künstler Kredite auf ihren Nachlaß, hätte Strand bald ein mondänes Leben führen können; andererseits wäre dann sein Werk nicht das, was es nunmehr ist. 1922 kaufte er sich, um sein Überleben zu sichern, eine Filmkamera und arbeitete als Kameramann im Nachrichten- und Sportbereich, wie es im Katalog heißt, fotografiert wurde in der Freizeit. „Dieser Aspekt der ,Erholung‘, des Entkommens aus der hektischen Urbanität New Yorks“, schreibt Ute Eskildsen, habe dann auch seine spätere „thematische Orientierung“ vorweggenommen: die „Perspektive eines Städters“ hat er in seine – letztlich doch dörfliche – Fotografie hineingetragen. Daher die Liebe für Ansammlungen von Sensen, Birken und Tauben.

Paul Strand ist ein politischer Mensch gewesen. 1932 ging er nach Mexiko, ein Jahr später wurde er dort Leiter für Fotografie und Cinematographie der Abteilung Bildende Kunst im Ministerium für Bildung. Keine Frage, daß im Film die Fragen von Arbeit und Lohn frontal angegangen werden konnten. Ganz einfach deshalb, weil das Kino Geschichten erzählt; auch wenn das brachiale story telling eines Films wie „Redes“ (1934, später in den USA als „The Wave“) im nachhinein als notdürftig kaschierte Propaganda erscheint. Fred Zinneman, der mit Strand an dem Film arbeitete, hatte den Regierungsmann als „doktrinärsten Marxisten“ in Erinnerung.

Strand kehrte dann, als die Mittel für seine Projekte nicht mehr bewilligt wurden, nach Amerika zurück und war in den vierziger Jahren dort wiederum für die amerikanische Regierung tätig. Er fotografiert sein erstes Buch „Time in New England“, in dem – so Ute Eskildsen – „die puritanische, die demokratische, aber auch revolutionäre Tradition Neuenglands vereint“ gezeigt werden. Diese Fotos waren alle von Strand gemacht, die Texte wurden von Nancy Newhall auch älteren Quellen entnommen.

Diese Fotos fehlen in Essen, so daß der Vergleich, ob Strand „sein“ Land anders fotografierte als die selbstgewählte Welt vor seiner Tür, leider ausfällt. Als der Fotograf sich – mit seiner dritten, weit jüngeren Frau – in Europa niederließ, hatten die Verhöre vor dem Ausschuß gegen unamerikanische Umtriebe jedenfalls schon begonnen. Nicht ohne Grund flüchtete Strand an die Peripherie jener Stadt, die sich als Hauptstadt der Moderne bewiesen hatte – auch wenn sie, just als er eintraf, gewissermaßen mit Strand in Frührente ging.

Er war gut sechzig Jahre alt, und die Sehnsucht nach den zeitlosen Dingen nach Feierabend gerann zu einer Idee vom zeitlosen Europa am Lebensabend. Die Frage, ob man die Verhältnisse im Detail kennen muß, wenn man zu fotografieren beginnt, ist müßig (sie wird in der Ausstellung diskutiert, als ginge es um Metaphysik). Atget hat das Paris vor seiner Tür mit Bravour fotografiert und Robert Frank das provinzielle Amerika, das er nur bedingt „kennen“ konnte. Nicht Strands Fremdheit in Europa war das Problem, sondern der ungelöste Widerspruch vom Wesen einer Landschaft (die mit Buchprojekten namens „Un paese“ etc. behauptet wird) und dem Wesen der Dinge, dem der Künstler der Moderne sein Geheimnis entlocken will.

Was bleibt? Das, was im amerikanischen Katalogbeitrag als „Humanität“ beschworen wird, „an die Paul immer geglaubt hatte“. Was Strands Fotos wirklich rüberbringen, ist eine ungeheuer patriarchale Schwere, eine um ihre Diskursivität beraubte Hoffnung, ein Pathos des Kreatürlichen. Die Welt vor der Erfindung des Ottomotors. Da ist sie wieder, die Nachkriegszeit, diese ungeheure Beklemmung. Die Normalität nach Hiroschima. Das runde Leben im Ganzen, als wäre nichts gewesen.

Die Ausstellung „Paul Strand: Die Welt vor meiner Tür“ ist noch bis zum 12. Juni im Museum Folkwang, Essen, später in München und Zürich zu sehen.

Der Katalog mit Texten von Catherine Duncan und Ute Eskildsen, Verlag Aperture, kostet 48 DM.