Seinen Eisenstein gelernt

■ Hamburg Oper: Mussorgskijs „Chowanschtschina“ von H. Kupfer

Manchmal liegt in kluger Zurückgenommenheit mehr Größe als im dröhnenden Oper-Affekt. Dies gilt im Falle der Chowanskji-Schweinerei von Mussorgskij für die Musik und im Fall von Harry Kupfers Interpretation, die Sonntag an der Hamburg Oper Premiere hatte, für die Inszenierung. Denn Mussorgskijs musikalische Erzählung der Machtkämpfe vor der Inthronisation Zar Peters I. Ende des 17. Jahrhunderts besitzt prickelnde Spannung auch ohne unvergeßliche Arien und goldene Overtüren. Das liegt sicherlich auch mit an Dimitrij Schostakowitsch, der die beim Tod Mussorgskijs nur unfertige Oper zwischen 1940 und 1960 bearbeitet und dezent modernisiert hat.

Und Kupfers Regie wandelt mit sicherem Augenmaß zwischen den Holzhämmern „plakative Aktualisierung“ und „muffiger Historien-Schinken“ hindurch. Vor einer halbzerstörten Plattenbau-Fassade, hinter der je nach Szene der Kreml, ein Palast oder Ikonen leuchten (Bühne: Hans Schavernoch), und in der sich zum Schluß die Christen-Sekte der Raskolnikis kollektiv selbstverbrennt, windet Kupfer die verzwickte politische Geschichte zu einem transparent erzählten Strang. Trotz russischer Sprache und Untertiteln über der Bühne bleibt die Dramatik stets offenbar. Kupfers unpathetische Personenführung gibt den handelnden Personen, die eigentlich nur als Stellvertreter konkurrierender Weltanschauungen agieren, eine menschliche Unmittelbarkeit, die den nationalen Stoff entschachfigurt. Gleichzeitig weist Kupfer dem Chor, der sich teilweise auf vier Stockwerken bewegt, eine zentrale Rolle zu und zeigt mit der notwendigen Differenz, daß er seinen Eisenstein wohl gelernt hat.

Doch den Hauptanteil an dem mit langem „Bravo“ gefeierten Erfolg hatte zweifellos die musikalische Abteilung. Gerd Albrecht hatte eine kleine Sternstunde (was man von seinem Orchester mal wieder nicht durchgängig behaupten konnte) und die Choreinstudierung von Jürgen Schulz ist ernsthaft grandios. Dazu sind die Hauptrollen sängerisch glänzend besetzt: Matti Salminen als Strelitzen-Oberst Chowanskij und Olga Borodina als die gläubige Marfa sowie Peter Rose als sektiererischer Patriarch und Wieslaw Ochmann in der Rolle des kaltschnäuzigen Regierungschefs Golizyn setzen einer homogen überzeugenden Ensembleleistung leckere Spitzenwerte auf.

Till Briegleb