Der ausgegrenzte Rest

Ist das „Barbarische“ ein Produkt der Moderne oder ein atavistischer Reflex? Ein Tagungsbericht  ■ Von Christian Semler

„Müssen wir den Froschkönig küssen, obgleich wir nicht wissen, ob er sich tatsächlich in einen blendend schönen Prinzen verwandeln wird?“ Niklas Luhmann meint ja, Ullrich Beck auch. Jan Philipp Reemtsma widerspricht. Der Froschkönig wurde überhaupt nicht geküßt, sagt er, zumindest nicht bei den Gebrüdern Grimm. Die Tochter, die sich dieser widerlichen Pflicht unterziehen sollte, hat gegen den Vater rebelliert. Sie pfefferte den Frosch an die Wand – und der verwandelte sich trotzdem in den Prinzen.

Wie soll die Wissenschaft, zumal die Soziologie, sich angesichts der Tatsache verhalten, daß die Welt entzaubert ist und die Moderne ihren Triumphzug vollendet hat – und dennoch die Barbarei wiederkehrt; daß Staaten, Völker, ganze Kontinente in Gefahr sind, in den Naturzustand zurückgeworfen zu werden? Hatten die Väter der Kritischen Theorie vielleicht so unrecht nicht, als sie in der „Dialektik der Aufklärung“ die Barbarei aus der losgelassenen instrumentellen Vernunft hervorgehen ließen? Ist „das Barbarische“ ein Produkt der Moderne oder nicht doch nur ein Atavismus, der in das Reich der Zivilisation hineinragt, Resultat eines unterbrochenen, aber vollendbaren Zivilisierungsprozesses?

Die Massenschlächterei spielt sich im Jahre 1994 nicht in den Sümpfen und Wüsten des Irak ab, von CNN leichenfrei an uns weitergereicht, sondern ein paar Autostunden von München entfernt: aufdringlich, blutig. 300 Jahre zuvor hat Thomas Hobbes, mit vergleichbaren Zuständen konfrontiert, geschrieben: „An meiner Wiege standen zwei Gevatterinnen – die leibliche Mutter und die Furcht.“ Die Angst vor dem großen Abschlachten war es, die ihm beim „Leviathan“ die Feder führte. Und von ihm stammt der monströse Satz „auctoritas non veritas facit legem“. Daß sich der 1989 weit aufgerissene Horizont so rasch verdunkelte, daß das Versprechen weltweiter Humanität so schnell und gründlich dementiert worden ist, müßte bei jedem Wissenschaftler, der mit „Gesellschaft“ befaßt ist, einen Schock auslösen, vergleichbar dem, den Thomas Hobbes angesichts des englischen Bürgerkriegs erlitt. Aber die in unseren Breiten betriebene Soziologie ist so gut abgedichtet gegenüber Zumutungen „geschichtsphilosophischer“ Art, daß die Tagung „Modernität und Barbarei“, veranstaltet vom Hamburger Institut für Sozialforschung und der Theoriesektion der deutschen Gesellschaft für Soziologie, tatsächlich zu einer Art Premiere wurde – in den Kammerspielen nahe der Universität.

Hobbes (alias Niklas Luhmann) war erschienen, John Locke (alias Jürgen Habermas) hatte sich entschuldigt. Um den großen An- bzw. Abwesenden hatten die Veranstalter eine Reihe bedeutender Gelehrter gruppiert, eine glückliche Mischung unterschiedlicher Temperamente, fachspezifischer Zugänge und Methoden. Zygmunt Baumann, polnischer Freigeist im englischen Exil, gestattete dem Publikum einen Blick auf sein Panorama der Moderne. Was es sah, war entmutigend. Der Zivilisationsprozeß, so Baumann, mindert nicht die Gewalt, sondern verteilt sie nur um. Was zur Vorhersehbarkeit und Kontrolle sozialer Prozesse beiträgt, verliert in den entwickelten Industriegesellschaften den Namen der Gewalt, der ausgegrenzte Rest gilt als barbarisch. Dies gilt nicht nur für den Umgang zivilisierter Staaten mit der „barbarischen“ Welt, wohin die „Zivilisierten“ die Ressourcen der Gewalt pumpen, sondern auch für den Umgang des Individuums mit sich selbst. Jeder ist angehalten, als Wächter seines kleinen do-it-yourself-prison zu fungieren. Im Zentrum von Baumanns Theorie stehen die Vorgänge, die Entsensibilisierung gegenüber menschlichem Leid ermöglichen – er nennt sie Adiophorisation (von adiophora gleich „Neutralisierung“). Daß die Prozesse der Entsensibilisierung zunehmen, hängt nicht nur mit den Verfahrensweisen moderner Bürokratie zusammen, sondern auch damit, daß die ursprünglichen Garanten der gesellschaftlichen Reproduktion, Arbeiter und Soldaten, verdrängt werden durch neue Prototypen: Konsumenten, Spieler, Touristen. Deren Erlebniswelt ist episodisch, zersplittert, reagiert auf Schocks. „Ich schreie, also bin ich.“ Das ist der Nährboden, auf dem die Adiophorisation wuchert.

Claus Offe, der klassifizierenden Analyse und dem Kästchenzeichnen geneigter als der historischen Spekulation, landete im Ergebnis nicht weit von Baumann. Auch für ihn ist „das Böse“ in die Moderne einprogrammiert. Er untersucht vor allem die „Mikro-Naturzustände“, die schleichende Erosion der Hemmschwellen im Alltag, den Zerfall von Stil, Anstand und Toleranz. Die Unempfindlichkeit, das „vorsätzliche Vergessen“, Marginalisierung und Ausschluß sind für Offe Ergebnis der gesellschaftlichen Differenzierung. Die Teilnahmebedingungen am Nullsummenspiel werden immer anspruchsvoller, es wächst die Zahl derer, die weder Gewinner noch Verlierer sind, sondern einfach Nichtbeteiligte. Immer mehr Menschen werden durch die vom Rechtssystem postulierten Gleichheitsgebote überfordert. Sie versagen vor der „Zumutung der Abstraktion“ und klammern sich an angeblich nicht übersteigbare Differenzen, vor allem an biologisch begründete. Aus dieser Fehlkonstruktion weist auch der Kommunitarismus keinen Ausweg, der seine Hoffnung auf dem formalen Recht vorgelagerte, in je spezifischen Gemeinschaften von den Bürgern geteilte Vorstellungen vom „guten Leben“ setzt. Denn solche Gemeinschaften grenzen sich nach außen ab und tendieren deshalb dazu, ihren humanen Anspruch zu zerstören.

Von Einschluß und Ausschluß handelte auch Niklas Luhmann, dessen Qualitäten als Entertainer mit der Scheußlichkeit des Gegenstands zunehmen, dem er sich widmet. Die vormodernen Gesellschaften beruhten nach ihm auf Unterscheidungen, freilich auf asymmetrischen. Denn es waren die Hellenen, die die Barbaren, und die Christen, die die Heiden definierten. Wer zur Gesellschaft gehörte, gehörte zum Haushalt. Wer draußen blieb, blieb in einer hierarchisch konzipierten Ordnung eben draußen.

Die Moderne löst die Exklusion durch umfassende, weltweite Inklusion ab. Theorien wie humanitäre Ansprüche kennen kein „Außen“ mehr. Jeder soll rechtsfähig sein, jeder soll Zugang zur Arbeit erhalten – die funktionale Differenzierung tritt an die Stelle des alten, stratifikatorischen Modells. Ausschluß heißt jetzt Selbstausschluß. Das Problem ist nur, daß die funktionale Differenzierung nicht mehr funktioniert. Die Einwohner lateinamerikanischer Favelas oder walisischer Bergwerksstädte, deren Gruben stillgelegt sind, unterliegen nach Luhmann nicht einmal mehr den einfachsten Einschlußformen: der brutalen Ausbeutung und der Repression. Die Kette der Ausschlüsse schließt sich, vererbt sich von Generation auf Generation. Die im Stil eines lockeren Reiseberichts vorgetragene Analyse wies keinerlei Ausweg. Denn wer wäre in der zivilisierten Welt an einer Remedur interessiert? Zaghafte Einsprüche der Diskutanten, die normative Gesichtspunkte einklagten oder nach einer Modernisierung der Modernisierungstheorien riefen, wurden bereits im Vorfeld als „unterkomlex“ bzw. theoretisch naiv beiseite gewischt.

Welche Rolle spielt die Ideologie beim „Rückfall in die Barbarei“? Nach Hans Mommsen eine eher geringe, nach Meinung seines Historikerkollegen Shmuel Eisenstadt eine ausschlaggebende. Für Eisenstadt ist Barbar, wer Menschen oder Gruppen aus einer Gemeinschaft ausschließt, der sie schon einmal als Gleichberechtigte zugehörten. Die Praxis der Ausschließung hat ihr Fundament im Absolutheitsanspruch der Moderne, wie es sich im Jakobinertum, dem Erbe aller früheren Heilserwartungen, konzentriert. Der Jakobinismus geht in die Konstruktion des modernen Staates ein, er prägt auch – gegen den ersten Anschein – die fundamentalistischen Bewegungen unserer Tage. Mit seinem rational-totalitären Anspruch verschüttet er gleichzeitig die „primordialen“, das heißt, die durch Abstammung und Sprache „gegebenen“ Gefühle der Zusammengehörigkeit. Sie dienen dann, frei flottierend, den totalitären Bewegungen als emotionaler Kraftquell. Einigen Gesellschaften wie die Englands oder Skandinaviens gelang es nach Eisenstadt, das „Primordiale“ republikanisch einzubinden. Wer unbefangen sagen konnte „Ich bin ein Engländer“, war resistent gegenüber der nazistischen Verführung.

Zu dieser Ableitung im Geist der Ideengeschichte stand Hans Mommsens Referat in schroffem Gegensatz. Nicht aus dem Antisemitismus, nicht aus „Mein Kampf“, nicht aus den Führerreden ist der Holocaust ableitbar. Er war das Produkt einer neofeudalen Herrschaft, die aus der Fäulnis der Institutionen erwuchs, aus einem Nebeneinander von zunehmend „visionärer Führung“ und der ungeregelten Willkür von Hitlers Satrapen. Die Ziele nazistischer Expansionspolitik waren durch und durch atavistisch. Nicht Peenemünde prägt das Bild, sondern der „Wehrbauer auf östlicher Scholle“. Aber daß dieses System vor- und antimodern war, kann keineswegs unserer Beruhigung dienen. Denn wo die demokratischen Einrichtungen verrotten, ist der Totalitarismus nicht fern.

Wie soll die Gefahr der Anomie gebannt werden, können Bürgertugend, öffentliche Moral, die civil society als Gegenkräfte wirken? Letztere wurde von Niklas Luhmann als aufgewärmter Kohl aus Frau Boltes Küche verspottet. Und zu ersteren fiel Ralf Dahrendorf nicht mehr ein, als den Niedergang ihrer Garanten in Großbritannien zu beklagen: der „tonangebenden“, eigentlich vormodernen Oberschichten.

So blieb es Ulrich Beck vorbehalten, einem Erweckungsprediger gleich sein Publikum zur radikalen Umkehr, zur Neubestimmung der soziologischen Kategorien und zur Hinwendung an die Gesellschaft, das unbekannte Wesen, aufzurufen. Ein unerfreuliches Schauspiel, das keinen Soziologen vom Hocker riß.