Café Fix: Einstieg zum Ausstieg?

Der „Frankfurter Weg“ in der Drogenpolitik zwischen Lob und Überlastung im Alltag / Methadonprogramm und Fixerbetreuung unter einem Dach  ■ Aus Frankfurt Heide Platen

Frankfurter Bahnhofsviertel, heruntergekommene Striplokale, vor der Moselstraße 4 drängen sich Menschen. Sie warten darauf, daß das kleine Schiebefenster im Erdgeschoß geöffnet wird. Ab 11 Uhr werden im „Café Fix“ die Spritzen ausgetauscht.

„Drei lang, zehn mittel, vier kurz.“ Die Länge der Nadeln richtet sich danach, an welcher Körperstelle der Einstich für die Injektion der Heroinlösung erfolgen soll: die langen für die Leistengegend, die kurzen für die Armvene, mittlere nach Bedarf. Die blutigen Spritzbestecke werden, manchmal aus randvollen Einkaufstüten, auf ein Kippbrett gezählt und in den darunter stehenden Container geschüttet – bis zu 4.000 Stück täglich. Nicht nur Spritzen können getauscht werden. Im Café Fix gibt's auch Tupfer, Kondome und destilliertes Wasser zum Aufkochen der Injektionslösung.

Im Café werden über fünfzig PatientInnen mit verschieden hohen Dosen Polamydon und Medikamenten versorgt. Die helle Flüssigkeit muß sofort geschluckt werden. Wer einmal nicht kommen kann, muß sich glaubhaft entschuldigen – wenn nicht, geht die Dosis zurück an die Apotheke. Im Frankfurter Methadonprogramm sind 800 Junkies. Ein Drittel der hier Versorgten ist HIV-positiv. Viele haben Hepatitis, und viele wären, so die Ärztin und der Sozialarbeiter, die die Kranken betreuen, „sonst schon tot“.

Nach der Polamydon-Vergabe werden Kranke, Substituierte und Fixer ambulant behandelt. Leiterin Birgit Wichelmann-Werth: „Die Leute sind oft fehl- und mangelernährt. Wir haben hier Krankheitsbilder wie im Krieg oder in der Dritten Welt.“ Wundinfektionen, Abszesse sind häufig, manchmal müssen auch Gliedmaßen amputiert werden.

Das Haus beherbergt auf engem, verschachteltem Raum den Cafébetrieb, das „Café Fix“ mit Frühstücks- und Mittagsangebot, Beratung, Ambulanz und ärztliche Versorgung, Methadonprogramm und als Arbeitsprojekte für Abhängige eine Kleiderkammer, Duschen, eine Nähecke. Träger ist der Verein für Arbeits- und Erziehungshilfe (VAE). Er betreibt noch weitere zehn Drogenprojekte. Das Paket der geballten Hilfe ist eine explosive Ladung. Daß der von Experten, Behörden und Polizei vielgelobte „Frankfurter Weg“ mit cleanem Stadtbild, Arbeitsgruppen, Runden Tischen und Deeskalationsgesprächen auch seine Tücken hat, zeigt sich im Alltag der Drogeneinrichtungen. Vor der Tür des Café Fix, und manchmal auch drinnen, wird gedealt und gespritzt. Das macht diejenigen, die sich im Methadonprogramm befinden, nicht gerade stabiler. Der Ansturm der verdrängten Szene und die Polizeirazzien nagen auch am Selbstverständnis der MitarbeiterInnen des Cafés.

Die SozialarbeiterInnen lehnen den „Frankfurter Weg“ nicht ab. Aber: „Jetzt haben wir die offene Szene hier unterm Dach.“ Das hat Veränderungen mit sich gebracht. Sozialarbeiterin Manuela stellt fest: „Wir sind hier immer mehr dazu da, Aufsichtsfunktionen zu übernehmen.“ Da heißt es aufpassen, daß die Dealer draußen bleiben, daß kein Geld unter dem Tisch den Besitzer wechselt, sich niemand auf der Toilette einen Schuß setzt. Dafür seien sie, sagen die Sozialarbeiter, nicht ausgebildet worden: „Achtzig Prozent unserer Arbeit ist nur noch Kontrolle.“ In ihrem Jahresbericht schreiben sie: „Die gravierendste negative Auswirkung war die Umfunktionierung der Sozialarbeiter des Cafés zu Ordnungskräften.“ Die Dealerei ist noch nicht gebannt. Dies und die zeitweise Überfüllung führten bereits zu kurzfristigen Schließungen.

Die SozialarbeiterInnen im Café Fix gleichen einem Phänomen. Es scheint, als ob sie auch am Hinterkopf Augen hätten, Konflikte spüren, noch bevor sie greifbar werden. Da ist Erich, der Anfang der 70er Jahre aus Kanada kam und blieb. Er ist „einer der ersten Streetworker“. Die energische Manuela, ihre quirlige Kollegin Marion, Kalle und Urs, beide gestandene Szenekenner, engagieren sich immer wieder aufs neue und stecken voller Ideen. Sie plädieren vehement für neue Formen der Drogenarbeit. Die Fixer könnten, sagt Urs, „durchaus arbeiten“. Und dann phantasiert er eine von Fixern betriebene zentrale Wäscherei für alle Drogeneinrichtungen, einen Copy-Shop, ein Caféhaus. Manche haben, erzählt Marion, geweint, als sie das erste Mal wieder selbst verdientes Geld bekamen: „Langeweile ist tödlich für die Süchtigen.“ Sie hat sich auch bei eigenen Vorurteilen und dem Helfersyndrom erwischt, als sie einem Junkie die mitgebrachte Schokolade bezahlen wollte: „Der hat mir vorgerechnet, daß er viel mehr Geld verdient als ich.“

In der Kleiderkammer arbeiten an diesem Tag drei „AAs“, „Abhängige Aushilfen“. Die Warteliste für diese Jobs ist lang, die Konkurrenz untereinander groß. Manchmal steigt die Spannung untereinander, Kleinigkeiten werden überinterpretiert und geraten zu großen Konflikten.

Markus bedient die Waschmaschinen und den Trockner und möchte nicht gestört werden. Der Leistungsdruck, unter den er sich selber setzt, ist enorm. Alles muß flink gehen, perfekt funktionieren. Tom geht die Kleiderausgabe gelassener an. Er ist seit fünfzehn Monaten im Methadonprogramm und wird erst ungeduldig, wenn zu sehr gemäkelt wird: „Manche Leute verwechseln das hier mit einer Boutique.“ Er sei „vorher nur den ganzen Tag dem Gift nachgerannt“. Dann kam mit dem Methadon der Schock: „Ich hatte auf einmal nichts mehr zu tun.“

Lisa bedient die Nähmaschine. Sie kommt täglich, näht Flicken auf Jeans, kürzt, ändert, bessert aus. Sie ist vierzig Jahre alt und seit zwanzig Jahren Fixerin. Ihr Freund ist im Methadonprogramm. Sie ist ein Beispiel dafür, daß Fixen ohne große Beschaffungskriminalität und bei einem Leben in halbwegs stabilen Zusammenhängen nicht zum körperlichen Verfall führt. Lisa fürchtet trotzdem um ihre Gesundheit. Das Heroin sei in den letzten zehn Jahren nicht nur teurer, sondern auch „immer schlechter“ geworden. Es wird gepanscht und gestreckt. Alle drei meinen, daß die Situation für Fixer in Frankfurt insgesamt aber besser geworden sei. Lisa: „Wenn einer Hilfe wirklich will, dann steht er nicht mehr allein da. Früher haben wir uns, auch die meisten, die nicht kriminell sind, nur im Untergrund bewegt.“ Sie vermißt die offene Szene nicht: „Das waren zuletzt krasse Bedingungen. Das kann ich mir, ehrlich gesagt, heute gar nicht mehr vorstellen.“ Sie schimpfen auf das Bundesgesundheitsamt, das die staatliche Heroinvergabe blockiert: „Daß einer das dann weiterverkauft, ist Unfug. Die sind froh, wenn sie das rein und unverpanscht kriegen.“ Markus: „Es ist doch der Dreck, der die Leute fertigmacht.“ Er meint damit auch die Lebensumstände in der Illegalität. Heroin, sind sie sich einig, „hindert nicht am Arbeiten. Es muß nur immer verfügbar sein.“ Markus: „Dann kannst du damit achtzig Jahre alt werden, besser als mit Alkohol.“

Zwischendurch sucht Tom passende Hosen zusammen und gerät seufzend in den täglichen Engpaß: „Jeder will Socken.“ Sie sind, ebenso wie Strümpfe, Schuhe und Unterwäsche Mangelware in der Kleiderkammer. Die „AAs“ kritisieren, daß sie trotz Arbeit im Haus nicht stimmberechtigt sind. Sie fühlen sich als „Helfer zweiter Klasse“: „Wir gehören nicht dazu. Wir werden hier verwaltet.“

Sozialarbeiter Kalle nimmt die Kritik gelassen: „Die Leute haben einen hohen Vertrauensvorschuß, den sie sich oft selber nicht geben. Sie sind sehr empfindlich und manchmal richtige Gerechtigkeitsfanatiker.“ Einer, den er zum Einkaufen schicken wollte, hat ihm völlig verblüfft gesagt: „Du kannst mir doch kein Geld geben, ich bin doch ein Junkie!“ Mitleid steht in der Moselstraße nicht auf dem Programm, sondern Akzeptanz der Sucht, Unterstützung in kleinen Schritten und Beraten von Fall zu Fall bei Menschen, die zwischen Aggression, Resignation und Übereifer schwanken. „Heilen“, sagt Manuela, das sei „vielleicht am Anfang“ ihr Anspruch gewesen. Aber zuerst komme das Überleben. Das Methadonprogramm sei keine Garantie dafür, daß jemand „clean“ werde. Die Versorgung rund um die Uhr, weiß Urs, „kommt denen entgegen“: „Bitte regle du mein Leben.“

Viele KlientInnen sind traurige Gestalten, die einen erschütternden Lebenslauf hinter sich gebracht haben. Da ist die spindeldürr abgemagerte Tina. Aidskrank. Der Virus greift ihr Hirn an, sie hat Gedächtnisstörungen. Früher war sie kräftig, lautstark, oft auch beängstigend aggressiv. Das schimmert nur noch selten durch, dann fängt sie einen Streit an, weiß dann aber selber nicht mehr warum, dreht sich um und vergißt. Oft aber ist sie „gut drauf“, kann lachen, sich unterhalten, dann wieder sitzt sie da, in sich zusammengesackt wie ein Häufchen Elend.

Walter fürchtet die langen Wartezeiten für eine Therapie, die Einsamkeit und hat Angst vor dem eigenen Versagen. Urs rät zu langen Wanderungen durch die Stadt, in praktikablen, kleinen, aber „eisern“ einzuhaltenden Schritten, „von A nach B nach C“. Der banale Rat: „Bleib einfach in Bewegung“, hilft. Zwischendurch kommt Herbert. Er freut sich, daß er in der Küche arbeiten darf.

Der „Frankfurter Weg“, differenzieren die PraktikerInnen vor Ort, bleibt letztlich doch nur Kosmetik am Stadtbild, wenn das „Umfeld nicht stimmt“. Und: „Substitutionsprogramm und Junkies in einem Haus, das geht nicht, das schafft neue Probleme.“ Das gilt auch für die bundesweit heiß diskutierte staatliche Heroinvergabe mit angeschlossenen Fixerstuben. Ohne die dafür nötigen Einrichtungen sei die Drogenhilfe „nur ein Anhängsel der Drogenpolitik“. Die SozialarbeiterInnen fürchten auch, daß das Sinken der Zahl der Drogentoten in Frankfurt in den letzten beiden Jahren eine „falsche Euphorie“ ausgelöst haben könnte. Die Zahl der Fixer sei seit Anfang des Jahres wieder steigend. Außerdem sei die so wichtige psychosoziale Betreuung doch nur rudimentär. Ein einziger Sozialarbeiter für über fünfzig Leute im Methadonprogramm sei zu wenig: „Das ist eine Medizinierung der Sozialarbeit.“ Der Geschäftsführer des VAE, Rüdiger Lenski, überlegte sich im Frühjahr öffentlich Nachbesserungen für den „Frankfurter Weg“, den Kritiker als mit „heißer Nadel gestrickt“ bezeichneten. Die eröffneten Einrichtungen liegen oft zu dicht zusammen, während andere Stadtgebiete unterversorgt sind. Lenski fordert eine Bedarfsermittlung und Umverlegungen der Einrichtungen.

Daß die Szene sich seit den 70er Jahren drastisch verändert hat, wissen vor allem langgediente SozialarbeiterInnen. Leiterin Birgit Wichelmann-Werth: „Ich habe früher das Gespräch mit denen gesucht. Deshalb bin ich in die Drogenarbeit gegangen.“ Das sei heute viel schwerer geworden. Erich: „Die Kids sind ihrer Umwelt gegenüber völlig zu.“

Viele konsumieren die abenteuerlichsten Drogenkombinationen, Koks, Tabletten, Pola, Heroin, „Hauptsache, Dichtmacher“. Die „Wachmacher“, „aufhellende“ Produkte der Pharmaindustrie, und Designerdrogen haben ihre Absatzmärkte eher in den Diskotheken der Stadt.

Die Namen der Abhängigen wurden von der Redaktion geändert.

Zum „Frankfurter Weg“ erschien das Buch „Heroin auf Krankenschein?“, Hrsg. Margarethe Nimsch, Verlag Stroemfeld/Nexus, Basel-Frankfurt, 1993, 48 DM