Der vergessene Bahnhof Canfranc

Eine Eisenbahnstrecke verliert den Konkurrenzkampf mit der Straße  ■ Von Andrea Kath

Mit lautem Getöse und eingehüllt in dichten Rauch, bewegt sich der Bummelzug talabwärts in Richtung Zaragoza. Seit im März 1970 die Eisenbahnbrücke von Estanguet gemeinsam mit einem entgleisten Güterwaggon in den Fluten des Aspe versank, sind die Zugverbindungen hier im spanischen Canfranc-Estación hinüber nach Frankreich unterbrochen. Im Tal des Aragón zu Beginn dieses Jahrhunderts gebaut, erinnert dieser Bahnhof in seinen enormen Ausmaßen eher an Stationen wie Leipzig oder Antwerpen als an einen unbedeutenden Provinzbahnhof in den einsamen Höhen der Pyrenäen.

Stilistisch eine Mischung aus Klassizismus und Jugendstil, gehört Canfranc auch heute noch zu einem der bedeutendsten Beispiele spanischer Eisenbahnarchitektur. Was aber vor noch nicht allzu langer Zeit wie für die Ewigkeit gemacht zu sein schien, verfällt unbemerkt. Den Internationalen Bahnhof von Canfranc, wie er offiziell noch immer genannt wird, verlassen heute nur noch Züge in Richtung Zaragoza. Und das auch nur noch zweimal am Tag. Bahnhofsvorsteher Jaime Ortiz de la Rubia hat daher viel Zeit. Zum Zeitvertreib schwatzt er mit den beiden Grenzpolizisten, die hier in Canfranc ebenfalls ihren ereignislosen und öden Job zu verrichten haben. Auch Eulalio Diez ist einer der wenigen Menschen, die heute noch in Canfranc beschäftigt sind. Seit 1966 arbeitet er hier. Doch heute, nachdem kaum noch Züge diesen Bahnhof verlassen, pflegt er vor allem notdürftig die einsamen und leeren Räume des riesigen Bahnhofsgebäudes. Wie Jaime Ortiz hofft auch er, daß die Zugverbindungen mit Frankreich eines Tages wieder aufgenommen werden. Aber so richtig daran glauben kann er nicht: Seit auf spanischer Seite der Ausbau der Schnellstraße von Jaca nach Candanchú über weite Strecken bereits fertiggestellt ist, wird eine Wiedereröffnung der alten Bahnlinie auf die andere Seite der Pyrenäen in das südwestfranzösische Béarn immer unwahrscheinlicher. Trotz des Widerstandes französischer und spanischer Umweltschützer scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis auch auf französischer Seite die Tunnelsprengungen für den Ausbau der Straße nach Oloron beginnen. Alte Bahngleise, Tunnel und Viadukte werden dann den Bulldozern zum Opfer fallen. Und eine Wiedereröffnung der alten Bahnverbindung wird damit für immer unmöglich.

Mehr als siebzig Jahre benötigte man für die Planung und den Bau dieser Strecke, bis sie schließlich gemeinsam mit dem mondänen Bahnhof im Jahr 1928 feierlich eingeweiht wurde. Bereits 1853, lange bevor als erste grenzüberschreitende Bahnlinie die Zugverbindung von Madrid über Irún nach Paris gebaut wurde, gab es Pläne, eine Bahnverbindung über die Zentralpyrenäen nach Frankreich zu schaffen. Als kürzeste Verbindung zwischen Madrid und Paris. Aber nicht nur der für eine Pyrenäendurchquerung notwendige Tunnel erschien in der damaligen Zeit als nicht lösbares Problem. Kein anderes Unternehmen aus den Anfängen der Eisenbahn erforderte so aufwendige Planungen, wie sie für die Verbindung zwischen der nordspanischen Region Aragón und dem südwestfranzösischen Béarn notwendig wurden. Allein 15 Jahre lang beobachtete man das Wetter, ehe sich französische und spanische Eisenbahningenieure auf das Tal des Aragón und Canfranc als geeigneten Standort für den Grenzbahnhof und das südliche Ende des Tunnels einigten. Baustopps, technische Probleme und vor allem diplomatische Schwierigkeiten kennzeichneten die Geschichte dieses damals einzigartigen Bahnprojektes; immer neue Verzögerungen waren die Folge. Erst nach Anbruch des neuen Jahrhunderts, im Jahr 1915, trafen sich endlich spanische und französische Bahnarbeiter im Inneren des Tunnels von Somport. Mit einer Länge von 7.800 Metern war einer der gigantischsten und zugleich schwierigsten Tunnelbauten der damaligen Zeit vollendet. Gigantisch waren aber auch die Anstrengungen für den Bau des Bahnhofs: Mit den Steinen, die Tag für Tag und Jahr für Jahr aus dem Berg geholt wurden, füllte man das Tal des Aragón und schuf ein Plateau, auf dem ein gewaltiges Bahnhofsgebäude entstand. Unweit des prunkvollen Baus wuchs für die Bauarbeiter eine kleine Ansiedlung armseliger Häuser, der heutige Ort Canfranc-Estación.

Bis in die fünfziger Jahre hinein hatte Canfranc vor allem als Transitbahnhof für Reisende und Waren aus Valencia und Aragón hinüber nach Frankreich eine herausragende Bedeutung. Bereits Anfang der sechziger Jahre zeichnete sich der allmähliche Niedergang des Bahnhofs ab: Immer weniger Fahrgäste nutzten die direkte Verbindung von Zaragoza nach Pau, der Güterverkehr versank in Bedeutungslosigkeit. Das System der unterschiedlichen Spurbreite tat ein übriges. Hatten sich die spanischen Verantwortlichen in den zwanziger Jahren den Forderungen der Franzosen nach Elektrifizierung und internationaler Spurbreite erfolgreich widersetzt, waren genau dies jetzt die Gründe, die Canfranc immer unrentabler werden ließen. Niemand vermag heute zu erklären, warum man damals versäumte, sich den technischen Neuerungen anzupassen.

Von den unzähligen Räumen des gewaltigen Bahnhofsgebäudes werden heute nur noch vier genutzt: die Post, ein kleiner Fahrkartenschalterraum, das Büro der Grenzpolizei sowie ein kleiner Material- und Lagerraum. Alles andere verfällt. So auch der ballsaalgroße Warteraum, der erst letztes Jahr geschlossen wurde, nachdem Besucher und Reisende immer mehr des antiquarischen Inventars zerstörten oder einfach als Souvenirs entwendet haben. Schon heute müßte so viel in die Renovierung des Bahnhofs gesteckt werden, daß die Kosten für den damaligen Bau, auf heutige Verhältnisse übertragen, bei weitem überschritten würden. Weder der spanische Staat noch die Europäische Gemeinschaft zeigen bislang Interesse, dieses monumentale Bauwerk zu erhalten. So ist es einzig der spanischen Eisenbahngesellschaft zu verdanken, daß diese Strecke aus purer Nostalgie niemals ganz aufgegeben wurde. Es soll bereits Pläne geben, Teile des Bahnhofsgebäudes zu privatisieren und als Kurhotel auszubauen. Doch dies seien, so Stationsvorsteher Jaime Ortiz, „leider nur Gerüchte“.