■ Wider den Katzenjammer bei den Grünen
: Freischwimmer vor!

Ist das Projekt schon zu Ende, bevor es überhaupt begonnen hat, verflüchtigt sich die Hoffnung auf einen Wechsel in Bonn wie eine Fata Morgana bei beginnender Abendkühle? Zur Zeit stehen wieder einmal alle Zeichen auf Depression. Das Regierungsprogramm der SPD: ein rot-grünes Desaster. Die Interviews des Kanzlerkandidaten mit Bart: ein reformerisches Waterloo. Die letzten Meinungsumfragen: bedrohlich, bedrohlich. Kohl frisiert den Aufschwung, seine Werte steigen. Fehlt nur noch, daß demnächst eine Meinungsumfrage den sicher geglaubten Einzug von Bündnis 90/ Grüne in den Bundestag in Frage stellt, dann ist die Katastrophe komplett.

Das Antidepressivum vor dem Absturz in die Resignation könnte sein: Von Kohl lernen heißt siegen lernen. Demokratie, Punkt eins der Lektion, ist zu einem guten Teil Stimmungsdemokratie, und Stimmung wird gemacht. Ende letzten Jahres war die Kanzlerdämmerung schon ausgemachte Sache, die verhinderte Heitmann- Kandidatur angeblich der letzte Nagel am Sarg des Dicken aus Oggersheim. Kohl ließ sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen. Journalisten wurden rüde angeschnauzt, sie hätten auch im Vorfeld der letzten Wahlen immer falsch gelegen. Wer letztlich recht behalte, könne man am Abend des 16.Oktober 1994 diskutieren. Mittlerweile scheint die Kanzlerdämmerung wieder vorbei, die öffentliche Meinung ist auf Aufschwung eingeschwenkt.

Paradoxerweise haben die Tarifparteien und einige SPD-Landesregierungen an diesem Meinungsumschwung den größten Anteil. Im Bewußtsein der Öffentlichkeit wurden die Massenentlassungen, die offenbar jede und jeden treffen konnten und eine der stabilsten Wohlstandsgesellschaften der Welt ins Elend zu stürzen drohten, nicht in Bonn, sondern in Wolfsburg gestoppt. Das VW-Modell zeigte, daß Massenentlassungen kein unabwendbarer Schicksalsschlag sein müssen und gesellschaftliche, auch finanzierbare Alternativen denkbar und machbar sind. Als dann noch interessierte Weisenräte und sonstige Fachinstitute bis hin zur Bundesbank behaupteten, die Talsohle sei durchschritten, der Silberstreif schimmere am Horizont, faßte der deutsche Arbeitnehmer wieder Mut. Vielleicht sei sein Arbeitsplatz ja doch sicherer, als er noch vor kurzem glaubte, sei die Gefahr der sozialen Deklassierung doch nicht so gigantisch wie befürchtet.

Das bedeutet, Lektion Nummer zwei, Zuversicht lohnt sich. Wer nicht an sich selber glaubt, an den glaubt auch niemand sonst. Die Selbst-Zelebrierung Kohls auf dem Hamburger Parteitag hat für die Partei genug Suggestivkraft entwickelt, um an eine erneute Kanzlerschaft des schwarzen Riesen zu glauben. Da Kinkel in dieses Rollenspiel beizeiten auch seine FDP einbrachte, ist die Koalition für den Wahlkampf psychologisch gerüstet.

Wie anders bei den Grünen! Statt Stimmung zu machen, lassen sie sich von Stimmungen manipulieren. Vor einem guten Jahr – die SPD suchte noch nach Vorsitzendem und Kanzlerkandidaten –, war die Stimmung für Rot-Grün noch denkbar schlecht, folglich schüttelten die Vorturner und Einflüsterer der Partei bedenklich die Köpfe. Die Zeit sei noch nicht da, die Partei nicht reif und die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wären furchtbar. Schon deshalb sei jede kommende Bundesregierung auf ökonomisches Krisenmanagement festgelegt. Und dafür brauche es die Grünen nicht. Diese Einschätzung änderte sich mit den Umfragewerten. Der Nobody aus Rheinland-Pfalz lag im letzten Herbst punktemäßig weit vor Kohl, Rot-Grün wurde rechnerisch möglich.

Plötzlich vergaßen alle Bedenkenträger ihre Skepsis, Regierungsbeteiligung wurde als Parole ausgegeben, auf einem Berliner Kongreß flügelübergreifend und in großem Einvernehmen besprochen und auf dem letzten Parteitag öffentlich bekräftigt. Die erste Landtagswahl im beginnenden Wahlmarathon beendete zwar eine rot-grüne Koalition, jedoch nicht weil die Koalitionäre zu schlecht, sondern weil sie zu gut abschnitten. Jetzt, so dachte man, werden die Grünen uns erzählen, warum und wie sie sich an einer Bundesregierung beteiligen wollen – doch Fehlanzeige. Statt Stimmung zu beeinflussen, Zuversicht zu demonstrieren, belästigt man die potentiellen Wähler mit Katzenjammer: Scharping will nicht, Scharping macht keinen grünen Wahlkampf, mit der SPD ist keine Koalition möglich, und wahrscheinlich reicht es unterm Strich sowieso nicht... Warum lamentieren führende Grüne darüber, daß Scharping keine „time for a change“-Kampagne macht, statt selber laut zu sagen, worin dieser Wechsel bestehen müßte!

Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer steht die Bundesrepublik vor entscheidenden Richtungsfragen. Während die letzten Wahlen praktisch ausschließlich über die Frage des Wie der Vereinigung entschieden wurden, geht es nun darum, auf welcher Grundlage sich die neue, die Berliner Republik entwickelt. Der jetzt angelaufene Wahlkampf erweckt den völlig falschen Eindruck, es ginge nur darum, mit welchen wirtschaftspolitischen Konzepten ab Herbst 1994 in Bonn Politik gemacht wird. Sicher geht es auch um eine neue Verteilung von Arbeit und um eine neue Bewertung der Systeme der sozialen Sicherheit in Deutschland. Vor allem aber stehen zwei Grundsatzentscheidungen an, die bislang in der öffentlichen Debatte zu kurz kommen. Am 16. Oktober wird sich mitentscheiden, ob der Trend zur Renationalisierung der bundesdeutschen Politik verstärkt und letztlich legitimiert wird. Oder ob der unbedingt demokratische, gesellschaftlich statt national denkende, europäisch statt deutsch-provinziell empfindende Teil der bisherigen Bundesrepublik zusammen mit der ehemaligen „Runder-Tisch“- geprägten Bürgerbewegung aus der Ex- DDR die Vorgaben macht und die Kontinuität der Republik definiert.

Hierfür ist entscheidend, ob auch diejenigen die Entwicklungen mitbestimmen, die die Demokratisierung und Modernisierung der Bundesrepublik durch die 68er-Revolte biographisch repräsentieren. Und es ist ebenso notwendig, daß die Träger des Aufstands gegen die Diktatur jetzt in Bonn mit dafür sorgen, daß ein Abgleiten in einen autoritären Nationalstaat nicht stattfindet.

Die zweite Grundsatzendscheidung betrifft die globalen ökologischen Fragen. Die Grünen könnten dafür sorgen, daß endlich eines der führenden Industrieländer die vorhandenen Kenntnisse zu einem ökologischen Umsteuern langsam, aber sicher auch in praktische Politik umsetzt – bevor es zu spät ist.

Wenn Bündnis 90/Die Grünen sich als Partei selbst ernst nehmen, können sie den Versuch, mit an die Macht zu kommen, nicht durch eigene Zögerlichkeit um vier Jahre vertagen. Alle anderen Probleme sind angesichts der kommenden Weichenstellungen sekundär und scheinen eher Vorwand für die Angst vor der eigenen Courage. Die Grünen haben 15 Jahre geübt, jetzt müssen sie schwimmen. Jürgen Gottschlich