Aids-Forscher unter Erfolgsdruck

Pharmafirmen lassen neue Medikamente in den HIV-Ambulanzen testen / Ärzte fordern mehr öffentliche Mittel / Die Abhängigkeit von der Industrie geht zu Lasten der Patienten  ■ Von Andreas Sentker

Die Meldung war kurz, und dennoch: sie erregte Aufsehen. „Das Aids-Medikament AZT hat keine prophylaktische Wirkung“, titelte die Deutsche Presse-Agentur. „Das ist so einfach völliger Unsinn, es widerspricht allen unseren Erfahrungen.“ Helmut Albrecht, Arzt in der HIV-Ambulanz am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf, ist zu Recht aufgebracht. „Wenn so eine Meldung in der Zeitung steht, laufen bei uns die Telefone heiß. Die Patienten, die wir seit Jahren mit AZT behandeln, fühlen sich natürlich auf den Arm genommen.“

AZT ist nur eines von vielen Therapeutika, mit denen die Ambulanzärzte versuchen, die Virusinfektion einzudämmen. Die drei Buchstaben stehen für Azidothymidin. Die Substanz verhindert die Synthese einer DNA-Kopie des Virusgenoms.

Die Forscher stehen unter Erfolgsdruck. Selten zuvor hat die Wissenschaft in so kurzer Zeit einen Krankheitserreger so genau kennengelernt wie das HI-Virus. Ein erfolgreiches therapeutisches Konzept aber wird wohl noch lange auf sich warten lassen.

Noch stammen die meisten Patienten an der Hamburger Klinik aus den klassischen Risikogruppen. Sie haben sich beim homosexuellen Geschlechtsverkehr angesteckt, sind drogenabhängig oder mit infizierten Blutprodukten behandelt worden. Albrecht beobachtet jedoch erschreckende Tendenzen: „Die Zahl der Frauen steigt dramatisch an, obwohl ihr Anteil in Deutschland noch relativ gering ist. Doch das ist nur der Anfang, da kommt eine Welle auf uns zu.“ Schon jetzt kommen weltweit auf jeden neuinfizierten Mann fünf Frauen.

In der Eppendorfer Kartei sind etwa 1.000 Infizierte verzeichnet, 600 von ihnen kommen regelmäßig zu Untersuchungen oder zur Therapie, einige zweimal im Jahr, andere monatlich, wöchentlich oder gar täglich. Die Ambulanzen führen klinische Studien mit Medikamenten durch, testen neue Therapiekonzepte. „Das ist eine unserer wichtigsten Funktionen, viele dringend notwendigen Therapeutika werden erst durch uns für die Patienten verfügbar“, stellt Albrecht fest.

Die klinischen Prüfungen eröffnen jedoch nicht nur neue Therapiemöglichkeiten, sie schaffen auch Probleme: „Wir können nur Medikamente testen, an denen auch die Industrie interessiert ist.“ Helmut Albrecht sieht sich zwischen den Fronten: den ökonomischen Erwägungen der Industrie stehen die berechtigten Interessen seiner Patienten gegenüber. „Die Studien nach Deutschland zu bekommen ist ein ständiger Kampf. Wir haben viele Medikamente als letzte testen können, dabei haben wir ein Pfund, mit dem wir wuchern können: unsere Patienten sind hoch motiviert.“ Die Ergebnisse US-amerikanischer Untersuchungen kann Albrecht kaum auf seine Patienten übertragen: „Wir haben es zum Teil mit ganz anderen Erregern zu tun, das Spektrum der opportunistischen Infektionen ist in Afrika oder Europa ein ganz anderes als in den Staaten.“

Er hat wichtige Gründe, ein verstärktes Engagement der Industrie einzuklagen. Den Ambulanzen fehlt es an öffentlichen Mitteln. Viele Stellen werden ausschließlich aus den Studiengeldern der Pharmaunternehmen finanziert. „Die Firmen helfen uns tatsächlich, doch wir brauchen dringend unabhängige Mittel. Selbst die Liechtensteiner sind uns darin überlegen“, schildert Albrecht das Dilemma. Die Abhängigkeit von den Pharmaunternehmen geht zu Lasten der Patienten. In der Regel werden den Teilnehmern an einer Studie, bei denen ein Medikament nachweislich gewirkt hat, die Präparate auch nach Abschluß der Studie zur Verfügung gestellt. Albrecht: „Das ist eine Regel, aber kein Muß. Es gibt keine rechtlichen Mittel gegen diese Brüder.“ Eine klinische Prüfung mit einem Proteinase-Inhibitor der Firma Searle wurde aus ethischen Gründen abgelehnt. Das Medikament sollte nur für die Testdauer von zwei Monaten zur Verfügung stehen. „Da werden chronisch Kranke zu Versuchskaninchen.“ Die Janssen GmbH aus dem rheinländischen Neuss hat in Hamburg und an weiteren Kliniken ein altbewährtes Medikament in neuer Form testen lassen. Pilzinfektionen stellen für Albrechts Patienten ein großes Problem das. Der Mundsoor läßt ihnen Hals und Rachen zuschwellen. Itraconazol ist ein wirkungsvolles Medikament gegen die Hefepilze. Die beim Bundesgesundheitsamt zugelassenen Kapseln können die Betroffenen aber kaum noch schlucken. Das Unternehmen versuchte, den Wirkstoff in Lösung zu bringen – mit Erfolg. Das verwendete Lösungsmittel Cyclodextrin ist bei der Herstellung von Medikamenten bislang wenig bekannt, so mußte der Itraconazolsaft wie ein neues Medikament getestet werden. Entgegen der gebräuchlichen Regelung war das Unternehmen jedoch nicht bereit, das Präparat länger als 3 Monate nach Abschluß des Tests zur Verfügung zu stellen.

„Uns liegen bisher noch nicht ausreichende Untersuchungen vor, um ohne Bedenken diese Substanz einer freizügigen Anwendung zuzuführen“, begründet Eberhard Zielke die Entscheidung des Unternehmens. Das Pharmaunternehmen Janssen argumentiert mit toxikologischen Daten und den strengen Gesetzesauflagen, Helmut Albrecht aber vermutet auch tieferliegende wirtschaftliche Erwägungen. „Von Janssen haben wir immer wieder neue und andere Gründe zu hören bekommen, warum sie nicht weiter liefern können. Und dann versuchen sie einmal, einem Patienten zu erklären, warum er ein Medikament, das ihm seine heftigen Beschwerden nimmt, plötzlich nicht mehr bekommen soll. Oft haben die Patienten gar keine andere Karte mehr auf der Hand.“ Tatsächlich erinnert die Auseinandersetzung an ein Pokerspiel. Unterdessen scheint sich jedoch eine Lösung abzuzeichnen. „Ich habe inzwischen für meine Patienten das Medikament bekommen“, schildert Albrecht die neue Entwicklung. Und: Janssen will eine Folgestudie durchführen – „nach langem Kampf ein Einbruch auf ganzer Linie“. Die hilflosen Opfer der langwierigen Streitigkeiten und Genehmigungsverfahren aber sind die Aids-Patienten. Einer von ihnen hatte, nachdem er nach zweimonatiger Therapiepause nichts mehr essen und trinken konnte, offen darüber gesprochen, daß er sich umbringen wolle. Nun kann er weiterbehandelt werden.