Hoffen auf das Unwahrscheinliche

Noch rechnet sich die SPD Chancen aus, mit Johannes Rau den Weizsäcker-Nachfolger zu stellen/ Doch die FDP-Spitze wird alles daransetzen, das Stück Machtwechsel zu verhindern  ■ Von Matthias Geis

Berlin (taz) – Wenn sich die SPD Gedanken über die Chance ihres Kandidaten für die Weizsäcker-Nachfolge macht, helfen manchmal auch etwas gewundenere Argumente. Die lange hinausgezögerte Koalitionsaussage der Liberalen beispielsweise, interpretierte SPD-Bundesgeschäftsführer Günther Verheugen flugs als weiteren Hoffnungsschimmer für Johannes Rau. Denn nun müsse die FDP den 23. Mai nicht länger für die Demonstration ihrer Koalitionstreue nutzen. Jetzt erst, mit dem Grundsatz-Bekenntnis zur Union, so Verheugen, könnten die Liberalen völlig frei, also Rau wählen.

Neue Hoffnungen, daß nach Gustav Heinemann zum zweitenmal ein Sozialdemokrat ins höchste Staatsamt gewählt wird, keimen auch, seit sich der Unions- Kandidat Herzog mit seinen jüngsten Äußerungen zur doppelten Staatsbürgerschaft nicht gerade als Liberaler präsentiert hat. Darf die SPD am Ende mit einem verspäteten Heitmann-Effekt rechnen? Und dann gibt es ja noch die Unions-Abweichler. Auch sie hat der SPD-Manager schon ausgemacht: „Die Zahl ist nennenswert.“

Nennenswert genug? Die unbereinigten Zahlen jedenfalls sprechen für Roman Herzog. Von den 1.324 Mitgliedern der Bundesversammlung stellt die Union 619 Wahlmänner und -frauen, die SPD 502, die Liberalen 111 die Grünen 44 und die PDS 33. In den ersten beiden Wahlgängen ist die absolute Mehrheit, 663 Stimmen, notwendig. Die wird aller Voraussicht nach weder Rau noch Herzog erreichen. Bündnis 90/ Die Grünen haben sich auf die Unterstützung von Jens Reich festgelegt, der als erster Kandidat von einer unabhängigen Initiative prominenter Politiker, Intellektueller und Künstler nominiert worden war. Seine Chancen schwanden, als klar wurde, daß die SPD auf die Rau- Kandidatur unter keinen Umständen verzichten wollte. Dennoch hat Reich bereits zu erkennen gegeben, daß er Rau nicht blockieren wolle und im dritten Wahlgang zurückziehen wird. Auch die Liberalen werden erst einmal Loyalität zu ihrer Kandidatin beweisen, auch wenn vorab schon klar ist, daß auch der siebte Präsident der Bundesrepublik keine Frau sein wird. Für keinen der beiden Hauptbewerber ist also eine absolute Mehrheit bereits in der ersten Runde in Sicht.

Wann zieht Hildegard Hamm- Brücher zurück? lautet deshalb die etwas despektierliche, aber entscheidende Frage, die ihre Kandidatur von Anfang an begleitete. Ihre Nominierung stammt noch aus der Zeit, als Helmut Kohl, ohne Absprache mit dem Koalitionspartner, Steffen Heitmann zum Kandidaten kürte und die Liberalen sich gezwungen sahen, auf den Affront zu antworten. Als Gegenkandidatin zu Roman Herzog wäre Frau Hamm-Brücher von ihrer Partei wohl kaum ins Rennen geschickt worden. Gibt die streitbare Liberale nach dem ersten Wahlgang auf, hätte die Koalition bereits dann eine rechnerische Mehrheit.

Wahrscheinlicher ist ihr Rückzug nach dem zweiten Wahlgang. Im dritten Wahlgang reicht die relative Mehrheit. Daß dann, wie es der Unterstützerkreis um Frau Hamm-Brücher kürzlich vorgeschlagen hat, Johannes Rau aufgibt, um der FDP-Politikerin den Weg ins Amt freizumachen, ist nicht sonderlich wahrscheinlich. „Wir stehen für solche Spielereien nicht zur Verfügung“, dementiert Verheugen das Undenkbare. Er setzt weiter auf das Unwahrscheinliche. Wenn sich im dritten Wahlgang nur noch Rau und Herzog gegenüberstehen, kann der SPD- Kandidat zwar mit Stimmen von Grünen und PDS-Delegierten rechnen. Doch selbst wenn alle für Rau votierten, würde der Abstand zur Koalition – die 15 Sonstigen, darunter acht „Republikaner“ nicht mitgerechnet – 150 Stimmen betragen.

Woher nehmen? Zwar hat es in der FDP immer wieder Stimmen gegeben, die sich für die Wahl Raus, des laut allen Umfragen populärsten Kandidaten, ausgesprochen haben. Doch daß Jürgen Möllemann auch nur „seine“ nordrhein-westfälischen Delegierten geschlossen zum Koalitionsaufstand treiben könnte, ist nach dem letzten NRW- Parteitag der Liberalen noch unwahrscheinlicher geworde. Dort nämlich fand sich sein Widersacher Klaus Kinkel in der ungewohnten Rolle eines dominanten Parteichefs, der seine Linie durchsetzt. Kinkel jedenfalls wird in der Auszeit vor dem entscheidenden Wahlgang im Reichstag alles daran setzen, seine Partei auf ein geschlossenes Votum zugunsten des Unions-Kandidaten einzuschwören.

Selbst Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, die Herzogs Ablehnung einer doppelten Staatsbürgerschaft kritisiert, erklärt zugleich, das liberale Wahlverhalten dürfe nicht allein von dieser Frage abhängig sein. Wer hätte damit gerechnet? Naheliegender ist, daß die diffus wirkende FDP gerade im Reichstag Koalitionstreue und Verläßlichkeit demonstrieren wird. Nach dem verpatzten Wahljahr-Auftakt und den ungünstigen Prognosen wird die FDP ihre lange hinausgezögerte Koalitionsaussage kaum durch eine spektakuläre Entscheidung gegen Herzog dementieren wollen. Das sieht wohl auch die Justizministerin so. Es spreche „einiges dafür“, daß die FDP in Berlin „geschlossen“ auftrete.

Und die Abweichler in der Union? Kaum zu bezweifeln, daß es einige Wahlmänner gibt, die mit Helmut Kohl offene Rechnungen zu begleichen haben, daß ostdeutsche CDUler ihm den Heitmann- Rückzug übelnehmen, daß – nach Berechnungen der Baracke – 59 Bundestagsabgeordnete der Union keine sicheren Listenplätze mehr ergattern konnten ...

Doch werden sie den Ausschlag geben wollen für „ein Stück Machtwechsel“? Wahrscheinlicher ist, daß die Union alles daransetzen wird, den für sie schon wieder etwas erfreulicheren Trend der letzten Wochen mit der Wahl „ihres“ Präsidenten zu stärken. Einen gelungeneren Einstieg in die kommenden Wahlkämpfe kann sich die Koalition kaum wünschen.