Nervosität vor dem fünften Jahrestag

■ Chinas Premier Li Peng beschwört Stabilität / Dissident Wang Dan verhört, andere entlassen / Soll Wei Jingsheng wegen Landesverrats angeklagt werden?

Peking (taz) – In China sind in den vergangenen Tagen wieder mehrere Dissidenten festgenommen und andere „vorzeitig“ freigelassen worden. Gestern verhörten Polizisten den ehemaligen Studentenführer von 1989, Wang Dan, nachdem er dem US-Fernsehsender NBC in seiner Wohnung gerade ein Interview gegeben hatte. Das US-Nachrichtenteam wurde zwei Stunden lang in einer Polizeistation festgehalten.

Erst am vergangenen Samstag hatte die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua berichtet, daß der Sozialwissenschaftler Chen Ziming aus medizinischen Gründen aus der Haft entlassen worden sei. Chen war wie sein Kollege Wang Juntao als „Drahtzieher“ hinter der Demokratiebewegung von 1989 zu je 13 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Wang konnte bereits im April in die USA ausreisen. Chen sei von der Sicherheitspolizei aus Peking an einen nicht benannten Ort gebracht worden. Möglicherweise will man Chen und andere einflußreiche Oppositionelle bis nach dem 5. Jahrestag der Niederschlagung der Demokratiebewegung vom 4. Juni 1989 aus der Hauptstadt fernhalten. Vergangene Woche haben die Behörden sechs Personen freigelassen, die verbotenen protestantischen Kirchen angehören sollen.

Sind diese widersprüchlichen Signale – Festnahmen und Freilassungen – auf Konflikte innerhalb der chinesischen Führung zurückzuführen? US-Präsident Bill Clinton muß Anfang Juni über eine Erneuerung der Zollvergünstigungen für Importe aus China entscheiden. Bislang hat er diese Entscheidung mit der Frage der Menschenrechte in China verknüpft. Falls sich gestern in der Hongkonger South China Morning Post veröffentlichte Berichte bewahrheiten, wird Clinton große Mühe haben, die Verlängerung der Handelsvorteile zu rechtfertigen: Danach plant Peking eine erneute Anklage gegen den 1993 nach über vierzehnjähriger Haft freigelassenen Dissidenten Wei Jingsheng. Wei soll wegen Landesverrates angeklagt werden, weil er im Frühjahr US-Unterstaatssekretär John Shattuck getroffen und darin bestärkt hat, die Gewährung von Handelsvorteilen mit der Achtung der Menschenrechte zu verknüpfen. Wei müßte mindestens zehn Jahre Haft befürchten.

Es sind aber in den vergangenen Wochen nicht nur politische Aktivisten abgeholt worden, sondern es gab auch eine allgemeine Verhaftungswelle und zahlreiche Exekutionen, über die Chinas Medien prominent berichteten. Laut der offiziellen Rechtszeitung sind bei einer neuen Polizeikampagne zehntausende Kriminelle festgenommen worden.

Hochrangige Funktionäre haben wiederholt vor Unruhen und oppositionellen Aktivitäten gewarnt. In einer Rede, die gestern auf der ersten Seite aller großen chinesischen Zeitungen abgedruckt war, zitiert Premierminister Li Peng Chinas graue Eminenz Deng Xiaoping: „Ohne stabile soziale und wirtschaftliche Umwelt wird es unmöglich sein, Reformen oder den Aufbau durchzuführen.“

Außerdem soll Li gegenüber dem US-Fernsehsender CBS die USA davor gewarnt haben, Handelsfragen mit einer Einmischung in chinesische Angelegenheiten zu verbinden. Bei einem Treffen mit dem ehemaligen US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski sagte Li, der weithin für die Schüsse auf die DemonstrantInnen von 1989 verantwortlich gemacht wird, ausländische Regierungen sollten sich nicht auf „die Worte oder Ansichten einer winzigen Zahl von Chinesen“ konzentrieren und dabei die Wünsche aller anderen Menschen in China ignorieren.

Diese Ansicht trifft in Washington keineswegs nur auf verschlossene Ohren: Bob Dole, der Chef der Republikaner im US-Senat, hat sich am Montag dafür ausgesprochen, China die Meistbegünstigungsklausel ohne Bedingungen einzuräumen. Es sei wichtiger, sich die Kooperationsbereitschaft Chinas in anderen Fragen zu sichern – wie etwa im Zusammenhang mit dem nordkoreanischen Atomprogramm – als die amerikanisch-chinesischen Beziehungen durch Handelssanktionen zu gefährden, meinte Dole. Sheila Tefft