Hyäne am Gesellschaftstisch

Aus Leonora Carringtons Drama „Opus sinistrum“ hat Winfried Radeke eine apokalyptische Oper komponiert – zur Uraufführung von „MinaMina“ in der Neuköllner Oper  ■ Von Anna-Bianca Krause

„Die ehrbaren Leute, die sie vor einem Dutzend von Jahren zum Diner in ein vornehmes Restaurant eingeladen hatten, haben sich noch nicht von dem Schock erholt, den sie bekamen, als sie gewahr wurden, daß sie sich mitten in der angeregtesten Unterhaltung die Schuhe ausgezogen hatte, um sich die Füße völlig gelassen mit Senf zu bestreichen.“

Diese Beschreibung der englischen Künstlerin Leonora Carrington, zu finden in André Bretons Anthologie des schwarzen Humors, wirft ein bezeichnendes Licht auf die außergewöhnliche Persönlichkeit der surrealistischen Malerin, die als phantastische Autorin weitgehend unbekannt geblieben ist.

Die Tochter eines Großindustriellen, bereits als Kind zum schwarzen Schaf der Familie erklärt, ist bestenfalls als vorübergehende Lebensgefährtin von Max Ernst und schillerndes Mitglied des Pariser Surrealistenkreises in die Kunstgeschichte eingegangen. Ihre magischen Erzählungen und bizarren Theaterstücke, ihr absurd-romantischer Roman „Das Hörrohr“ und ein Tagebuch über einen psychischen Zusammenbruch während des Faschismus, den sie in der Zelle einer psychiatrischen Anstalt überwinden mußte, haben den Weg zu größeren Leserkreisen noch nicht gefunden. Das hat sicher auch damit zu tun, daß die meisten Texte vor mehreren Jahrzehnten entstanden sind und die heute siebenundsiebzigjährige Leonora Carrington seitdem hauptsächlich als bildende Künstlerin arbeitet.

Dabei sind die Texte Carringtons weder sprachlich noch inhaltlich gealtert. Wie die Hyäne aus ihrer Erzählung „Die Debütantin“, die ihre Fratze gegen das liebliche Gesicht eines jungen Mädchens tauscht, damit an deren Stelle einen Ball besucht und dort für Verwüstung in der guten Gesellschaft sorgt, demaskiert die Autorin ihre Figuren und deren Umfeld. Trotz der märchenhaft-utopischen Elemente und einer gehörigen Portion Humor und Humanität, blickt Leonora Carrington schonungslos, die Regelmechanismen sezierend, auf menschliche Hackordnungen. Die Alltäglichkeit des Absurden, die Normalität des Visionären und eine unbezwingbare, anarchische Lust machen den Reiz der Texte aus; sie sind offensiv kirchenfeindlich, auf sensible, undogmatische Weise frauenbewegt und geben die Hoffnung auf einen andere, bessere Welt nie auf.

Die apokalyptische Komponente in Carringtons Werk ist in dem 1969 entstandenen Theaterstück „Opus sinistrum“ besonders deutlich. Das Ende naht mit Riesenschritten, Frauen und Tiere sind nahezu ausgestorben, an eine Fortpflanzung ist nicht mehr zu denken. Die Geschichte, die nichts weiter ist als eine Serie von grotesk-surralistischen Weltuntergangsbildern, rankt sich um ein Straußenei, das zum Inbegriff aller Hoffnungen auf einen Fortgang des Lebens wird. Zwischen all den übriggebliebenen Männern, die ihre Zukunft in diesem Ei sehen, thront Madame MinaMina, eine „kolossal fette, achtzigjährige Dame, die früher einmal ein Bordell geleitet hat“ und nun zum Faktotum der Apokalypse geworden ist.

Winfried Radeke, Komponist und Gründer der Neuköllner Oper, hat sich dieser menschlichen Karikaturen Carringtons angenommen und die apokalyptische Oper „MinaMina“ daraus kreiert. Die inhaltliche Grenzüberschreitung – von herber Gesellschaftskritik zu einer Traumwelt – findet eine musikalische Entsprechung in einer Mischung von U- und E-Musik: Saxophone, Pauken und Violoncelli sind ebenso beteiligt wie Sampler und E-Baß. Ob Carringtons Zerrbild männlichen Technologiewahns und Aggressionsgehabes so schonungslos auf die Bühne gebracht wird, wie die Autorin es vorzeichnete, wird sich heute abend zeigen.

Die Uraufführung von „MinaMina“, findet heute abend um 20 Uhr statt, weitere Vorstellungen am 21., 22. und 27. bis 29.5., ebenfalls 20 Uhr sowie zahlreiche im Juni, Neuköllner Oper, Karl- Marx-Straße 131–133, Neukölln.