„Ausnahmsweise müssen wir Diepgen recht geben“

■ Streit bei Bündnis 90/Grüne: Muß der öffentliche Dienst frei von Stasi-IM sein?

taz: Der Regierende Bürgermeister Diepgen hat kritisiert, daß bislang im öffentlichen Dienst grundsätzlich jeder entlassen wird, der irgendwann der Stasi zugearbeitet hat. Dies gelte auch dann, wenn dieser Inoffizielle Mitarbeiter diese Kontakte bei seiner Einstellung verschwieg. Die Fraktion Bündnis 90/ Grüne hat Diepgen dafür kritisiert.

Renate Künast: Die Fraktion selber hat das gar nicht kritisiert, sondern nur der Fraktionsvorsitzende Wolfgang Wieland und die beiden Abgeordneten Anette Detering und Christian Pulz haben das zurückgewiesen. Das geschah zu meinem und anderer Fraktionskollegen Erstaunen, weil das nicht unsere Fraktionsposition ist. Die ist nämlich bedeutend differenzierter. Danach hätte man viel eher sagen müssen, so leid es uns tut, ausnahmsweise müssen wir Herrn Diepgen mal recht geben.

Hat der Fraktionsvorsitzende diesen Diskussionsstand vergessen?

Wahrscheinlich ist es so, daß sich Detering und Pulz in der Mehrheitsposition sowieso nicht wiederfanden, und dann – am Montag war ein heißer Tag – ist dabei die Unterschrift des Fraktionsvorsitzenden unter die Erklärung geraten.

Grundsätzlich stehen wir allen Überprüfungen kritisch gegenüber. Wir bejahen zwar die Arbeit der Gauck-Behörde. Das kann aber nicht heißen, daß – wie es in unserer Presseerklärung heißt – der öffentliche Dienst frei sein muß von Stasi-Spitzeln. Man kann doch nicht jedes Ereignis, eine Notsituation oder eine einmalige Lüge vor zehn oder zwanzig Jahren gleichsetzen mit langjährigen Zuträgern der Stasi.

...ungeachtet des späteren Lebenswegs...

Natürlich spielt der spätere Lebensweg eine Rolle. Aber nicht alle sind durch späteren Widerstand geadelt. Auch jemand, der nach dem Stasi-Kontakt entschied, sich in eine Nische zurückzuziehen, muß eine Chance haben.

Unser Grundgesetz läßt es überhaupt nicht zu, daß man jemandem, der einmal einen Fehler gemacht hat, bis zum Ende seines Lebens die Perspektiven verbaut. Es gilt für jeden Lebenslänglichen, daß der eine Resozialisierungsperspektive haben muß, und das muß auch für jeden gelten, der mal IM war.

Man könnte Wieland, Detering und Puls zugute halten, sie vermuteten hinter Diepgens Äußerungen eher den Versuch der Vergangenheitsverdrängung?

Man kann sich nicht mit der Aussage entschuldigen, weil der falsche Motive hat, ändere ich meine Position und schere plötzlich alles über einen Kamm. Wir haben immer vertreten: Es ist grundsätzlich eine Einzelfallüberprüfung vorzunehmen. Wer nur auf die Motive anderer Leute reagiert und dann gleich das Kind mit dem Bade ausschüttet, der darf sich nicht wundern, wenn er sich am Ende mit Kohl in einem Boot wiederfindet.

Steht jetzt an, bei Diepgen die Nagelprobe zu machen für die Abschaffung der bisherigen Praxis?

Sicher, das muß her. Es braucht endlich einen Kriterienkatalog für die Überprüfung im öffentlichen Dienst. Zuvor aber müssen wir erst einmal den Konsens in der Fraktion wiederherstellen. Das Gespräch führte

Gerd Nowakowski