Musik aus dem kleinen Finger

22 Jahre surrealistische Salonmusik: Das Penguin Cafe Orchestra bringt Cage und Cajun, Satie und Satire zusammen  ■ Von Christoph Wagner

Ein Abend im „Penguin Cafe“. Gedämpftes Licht, gedämpfte Gespräche, gedämpfte Musik. Gegen Ende legt das Hausorchester doch noch einen Zahn zu. Die Posaunistin läßt ihr Blech scheppern, die Geige fiedelt in Country-Manier, der Gitarrist schlägt einen südamerikanischen Rhythmus und wippt mit den Füßen dazu, während die Felle des Schlagzeugers auf einmal mächtig dröhnen.

Es ist wie ein spontaner Gefühlsausbruch nach so viel diszipliniertem Musizieren. Lange hat das Pianissimo den Kurs bestimmt, die Musiker zu dezenter Zurückhaltung gemahnt. Die Vorgaben waren präzise. Sacht wurden die Tupfer gesetzt: hier ein paar wohlige Cellosequenzen, dort eine weiche Oboenmelodie, dazu leise Klarinettentöne über sanften Pianogirlanden. Eine ruhige, fließende Harmonie, die durch nichts gestört wurde und niemanden störte – die Hausmusik des „Penguin Cafe“.

Ein früherer Stammgast hatte die Anregung dazu gegeben. „Ich denke sie mir wohlklingend“, hatte er dem Kellner vorgeschwärmt. „Sie würde den Lärm der Messer und Gabeln mildern, ohne sie zu übertönen, ohne sich aufzudrängen. Sie würde das manchmal so drückende Schweigen zwischen den Gästen möblieren.“

Der ältere Herr hatte allerdings die Premiere der Hauskapelle nicht mehr erlebt: Monsieur Satie war schon vor längerer Zeit verstorben.

Die Heimsuchung des Simon

Ein fiebriger Tagtraum gab den eigentlichen Anstoß zur Gründung des Penguin Cafe Orchestra – damals, vor 22 Jahren. Simon Jeffes lag im Urlaub in Südfrankreich mit einer Fischvergiftung im Bett. Da, so will es jedenfalls die Legende, wurde er von einer Vision heimgesucht. Er befand sich in einem futuristischen Gebäude, einem riesigen Hotel mit geschwungenen Treppen und unzähligen Räumen. „Jede Bewegung wurde von einem elektronischen Kameraauge überwacht. Alles war unter Kontrolle. Von nirgendwoher drohte auch nur die geringste Gefahr. Es war sehr sicher, aber auch sehr tot. In einem Raum befand sich ein Musiker mit einem riesigen Equipment von der Art eines Moog Synthesizers. Er schien mit Begeisterung damit Musik zu machen, allerdings war gar nichts zu hören, weil er einen Kopfhörer auf hatte. Auch die vielen anderen Leute taten alle irgendetwas, aber irgendwie war trotzdem in all ihren Aktivitäten kein richtiges Leben.“

Ein paar Tage später am Strand – Jeffes war wieder genesen – hatte er ein noch merkwürdigeres Erlebnis. In einem Akt des automatischen Dichtens, wie es von den Surrealisten praktiziert wurde, quoll ihm ein Manifest aus dem Mund. Von einem „Penguin Cafe“ war darin die Rede, das eine Art Gegenwelt zur Orwell-Vision des Fiebertraums darstellte. Es war ein phantastischer Ort, wo man mit Erik Satie, einem Tonbandgerät und einem Elefanten am Tisch saß. Die Botschaft lief darauf hinaus, die spontane, waghalsige und vom Zufall bestimmte Seite des Lebens nicht zu unterdrücken, weil man damit das Leben insgesamt ersticken würde.

Simon Jeffes, der sich zu dieser Zeit in einer Orientierungskrise befand (er hatte kurz zuvor sein klassisches Musikstudium abgebrochen), kein Jazzmusiker war, aber auch mit der Avantgarde nichts am Hut hatte („Zu kopflastig!“), nahm die Begebenheit als Fingerzeig, die dem „Komponisten ohne Kontext“, als der er sich damals empfand, eine Richtung wies. „Im ,Penguin Cafe‘ gab es jeden Abend Musik, eine Mischung aller möglichen Stile. Es wurde nicht zwischen ,hoher‘ und ,niederer‘ Musik unterschieden. Alles war einfach nur eine Musik. Ein Orchester spielte etwa eine Beethoven-Symphonie mit Zigaretten in den Mundwinkeln. Danach trat eine Rhythm-&-Blues-Band auf. Dann gab es ein elektronisches Stück von Stockhausen. Daraufhin ließ jemand Abba auf einem Ghettoblaster laufen, um von einer Cajunband abgelöst zu werden. Es war genau die Sorte von Musik, die mich immer interessiert hatte, und es wurde sehr zurückhaltend musiziert. Es waren leise, manchmal fast stille Töne. Nie ging die Musik aus sich heraus. Sie war da, wenn man ihr zuhören wollte, aber man konnte sie auch leicht ignorieren, wenn sie einem nicht gefiel.“

Eine kleine Wassermusik

1972 wurde aus der Vision Wirklichkeit. Simon Jeffes formierte ein reales Hausorchester für sein imaginäres Café. Mit einer Kombination aus Streichern und Schlagwerk, unterstützt von sparsamen Bläser- und Gitarrenarrangements, orientierte er sich am Vorbild der alten Salonorchester, wie sie in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts die gepflegte Unterhaltung der Großstädte geprägt hatten. Was ihm vorschwebte, war ein kleineres Symphonieorchester mit Rhythmusgruppe.

So altmodisch die Besetzung anmuten mochte, so modern klang die Musik. Jeffes' Kompositionen verbanden divergierende Traditionsstränge. Erik Satie stand bei der „Musik als Dekor“-Idee Pate, die den Klängen keine wichtigere Rolle zumaß als dem Licht oder der Wärme. Die Musik sollte die Pose der großen Kunst aufgeben und eine „nützliche“ Dienstleistung sein. Hintergrundmusik im besten Sinne, unaufdringlich, elegant und leicht, aber nicht seicht.

Daraus ergab sich die Forderung nach einem bewußten und sparsamen Umgang mit den musikalischen Mitteln. Jeder einzelne Ton sollte Sinn machen. „Eine Note ist eine Note“, lautete Saties Postulat.

Ein anderer Ziehvater war John Cage. Er hatte Jeffes die Ohren für die natürlichen und elektronischen Geräusche der Umwelt geöffnet, die in der Penguin-Cafe-Musik eine bedeutende Rolle spielen. Eines ihrer klassischen Stücke, „Telephone and Rubber Band“, basierte auf Telefonzeichen, die sich zu einem Ostinatomuster minimalistischen Zuschnitts ordneten. Ein Einfall, den er auf einem Stück der neuesten Platte variierte. Sie enthält außerdem noch einen Titel, bei dem sich das Tropfen eines undichten Wasserhahns zu einer kleinen minimalistischen Wassermusik verdichtet. Ein Kritiker schrieb von „Minimalmusik mit Melodie“.

Musica povera

Und erst das Instrumentarium! Neben den klassischen Instrumenten pflegte Jeffes ausgiebig seine Vorliebe für die musikalische Form der „arte povera“ – und drehte mit Billiginstrumenten wie Blechflöten, Mundharmonika, Melodica und Ukulele der westlichen Orchestertradition eine Nase.

Dieses Faible für den nicht gesellschaftsfähigen Verwandtschaftsteil der Musikinstrumentenfamilie rührte von seinem Interesse an traditioneller Musik her. „Ich erinnere mich, als ich 14 Jahre alt war, nahm ich aus der Schülerbücherei ein Buch über afrikanische Musik nach Hause. Ich hab' darin herumgeschmökert, und obwohl ich nicht viel verstand, hatten es mir besonders die Schaubilder der verschiedenen Rhythmen angetan, die zeigten, wie da unterschiedliche Zeitstrukturen ineinandergriffen. 1972 gab mir dann ein Freund eine Cassette mit Musik aus Kenia. Das war eine wahre Fundgrube und hat viele Türen aufgestoßen. Auf sonderbaren Instrumenten wurde da mit drei Tönen eine Musik gemacht, die mich absolut gefangennahm, was mir zu denken gab, denn unserem westlichen Verständnis nach hätte diese Musik absolut langweilig klingen müssen. Das hat meine Auffassung nachhaltig beeinflußt. Nicht daß ich versucht hätte, ethnische Musik zu kopieren. Das gelingt nie und wäre albern. Die Inspiration erfolgte auf einer tieferen Ebene. Sie betraf das Wesen der Musik.“

Besonders die westafrikanische Kora-Harfe hat deutliche Spuren in den Kompositionen von Simon Jeffes hinterlassen. Auch wenn ganz andere Instrumente spielen, ist der Geist der Kora in der Räumlichkeit der Klänge, dem fließenden Charakter der Musik, den lichten, himmlischen Tonkaskaden gegenwärtig. Seit allerdings die Rezeption traditioneller Musiken in den letzten Jahren inflationsartig zugenommen hat und als „Naturkost“-Abteilung des internationalen Musikbusineß zum millionenschweren Weltmusik-Trend anschwoll, ist Simon Jeffes' anfängliche Begeisterung einer deutlichen Skepsis gewichen. Die Ethno- Klänge von überall her, ihre supermarktartige Präsentation nimmt seiner Meinung nach den Klängen ihr Charisma: „Weltmusik“ wird „Allerweltsmusik“.

„Diese Klänge beziehen ihre Kraft aus ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld. Schneidet man sie davon ab, beraubt man sie ihrer eigentlichen Stärke: ihrer lokalen Identität. Deshalb führt auch die Vorstellung, man könne alles künstlich zu einer Art Weltmusik fusionieren, in die Irre. Das wäre, wie wenn man alle Farben eines Malkastens zusammengießen würde, was Braun ergibt. Andersherum besteht allerdings die Gefahr, daß man durch ein zu striktes Reinheitsgebot bei einem musikalischen Neonationalismus landet.“

Die Qualität, die Jeffes in „ethnischer Musik“ fand, hat – neben ihrer rhythmischen Intensität – mit ihrer Unmittelbarkeit zu tun. Während die Rationalität westlicher Konzertmusik vor allem den Intel

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lekt als Adressaten kennt, sucht die traditionelle Musik direkten Zugang zur Gefühls- und Seelenwelt ihrer Zuhörer. „Als ich zum erstenmal Cajunmusik hörte, war es, als ob jemand auf meinen Herzbändern spielte. Die Geige klang, wie wenn sie auf einem Feld gewachsen wäre. Einfach abpflücken und drauflosspielen.“

Doch Simon Jeffes ist sich der kulturellen Kluft durchaus bewußt. Da er kein Kürbisfarmer aus Louisiana ist, sondern ein englischer Großstadtintellektueller reinsten Wassers, wendet er einen Trick an: Ein stets griffbereiter Digitalrecorder erlaubt es ihm, einen Geistesblitz sofort einzufangen, bevor er durch die Windungen des Gehirns gedreht wird.

Automatisches Komponieren

Sein kleines Studio in einem der besseren Stadtteile von London, vollgestopft mit Instrumenten und technischem Gerät, wird so zur Radarstation – für Impulse aus dem All oder dem kleinen Finger. „Je mehr ich mich anstrenge zu komponieren, je weniger klappt es. Ich komponiere am besten, wenn ich nicht komponiere, sondern mich nur aufnahmebereit halte. Ich übe auf den Instrumenten, und wenn dann ein Stimulus eintrifft, versuche ich unmittelbar und konzentriert zu reagieren. Das Denken ist doch ein Problem, das sich zwischen uns und das Leben schiebt. In dieser spontanen Reaktion liegt die tiefere Natur der Penguin-Cafe-Musik.“

Sieben Platten hat das Ensemble in 22 Betriebsjahren veröffentlicht. Eine Bilanz, die Simon Jeffes nicht gerade als Vielschreiber ausweist. Sorgfalt und Muse nennt er als Arbeitsprinzipien. Aus dem losen Pool von Musikern, die ihm bei den ersten Produktionen zur Seite standen, hat sich mittlerweile ein harter Kern herausgeschält, der zur mehr oder weniger festen Stamm-Mann(und Frau-)schaft des Penguin Cafe gehört. Neben dem Multiinstrumentalisten Geoffrey Richardson und der Cellistin Helen Liebmann ist seit ein paar Jahren auch die Posaunistin Annie Whitehead mit von der Partie, die eher einem Jazzpublikum bekannt sein dürfte.

Darüber hinaus sorgen Gäste wie „Punk-Paganini“ Nigel Kennedy oder die Folkmusikerin Kathryn Tickell für Abwechslung. Berührungsängste kennt Jeffes sowieso keine. „Irgendwann Ende der Siebziger rief mich eines Tages jemand von den Sex Pistols an. Sie benötigten ein Streicharrangement für Sid Vicious' Version von ,My Way‘. Sie sagten, ich solle einfach am Nachmittag mit vier Streichern vorbeikommen und es runterspielen.

Ich ging hin und machte ihnen klar, daß so etwas ohne Noten nicht ginge. Also nahm ich die Aufnahme des Songs mit nach Hause und schrieb die Streicherpartie dazu. Dabei geriet ich mehr und mehr in seinen Bann. Es war nicht das Lied, das mich gepackt hat, das ja ein furchtbarer Schinken ist, sondern die heroische Art, mit der Sid Vicious es auseinandernahm. Wunderbar!“

Seitdem hat Vicious im „Penguin Cafe“ immer einen Drink frei. Er tritt dort sogar gelegentlich in einer Allstar-Revue mit John Cage, Nathan Abshire und Muddy Waters auf. Dann muß er allerdings leiser singen.

Neue Platte: „Penguin Cafe Orchestra – Union Cafe“.

Zopf Records/ Polygram 518 410 2.