Die Leine wird kürzer

Pekings Behörden haben erstmals Berufsverbote für Filmemacher verhängt  ■ Von Christiane Peitz

Wenn sich der Begriff Verbotenheit steigern ließe, dann wäre der derzeit verbotenste chinesische Film Tian Zhuangzhuangs (42) „The Blue Kite“. Ähnlich wie Zhang Yimous in Cannes uraufgeführtes neues Werk „Leben“ (siehe taz vom 18.5.) thematisiert auch Tians Film in einer Familienchronik die tabuisierte Epoche v o r der Kulturrevolution, die Hungersnot und den „Großen Sprung“ – allerdings tut er es weniger behutsam als Zhang. Hierzulande lief „The Blue Kite“ kürzlich im ZDF, hat aber – trotz seiner Erfolge in Cannes 1993 und im Kino in den USA – bis heute keinen deutschen Verleih. Den blauen Drachen im Titel will der Regisseur programmatisch verstanden wissen: „Chinesen lassen gerne über sich bestimmen. Selbst wenn sie hoch in den Himmel fliegen und glücklich zu sein scheinen, gibt es immer eine Leine, die an ihnen zerrt.“ Diese Leine ist neuerdings kürzer geworden. Filmische Höhenfluge sind in China im Moment schwieriger denn je.

Der Erlaß erging Anfang April. Chinas Ministerium für Rundfunk, Film und Fernsehen hat gegen sieben Regisseure, darunter Tian Zhuangzhuang und Zhang Yuan („Bejing Bastards“) einen Bann verhängt. Den 17 Filmstudios der Volksrepublik wurde jegliche Zusammenarbeit mit diesen Filmemachern verboten, ebenso Produktionsfirmen und Equipment- Verleihern. Das Verbot umfaßt Filme, Musik, Videos und Werbung, betroffen sind auch Wang Xiao Shuai (29) und He Jianjin (33), deren schwarzweiße Gegenwartsfilme über die Situation der Generation der knapp 30jährigen auf dem diesjährigen Berlinale-Forum zu sehen waren. Auf der schwarzen Liste stehen außerdem Wu Wenguang („Meine Zeit bei den Roten Garden“), Dai Lin und die experimentelle Gruppe „Structure, Wave, Youth and Film“. Ein Novum in der Geschichte des chinesischen Kinos: Zensur und Verbot von Filmen haben Tradition, direkte Berufsverbote wurden bisher jedoch nicht ausgesprochen.

Die Hardliner-Maßnahme ist nicht die erste den Film betreffende Restriktion, sondern vorläufiger Höhepunkt einer offenbar von der Angst um Machtverlust getriebenen Kampagne des Pekinger Filmbüros als der obersten Zensurbehörde und des Rundfunkministeriums als der nächstwichtigen Kontrollinstanz. Profitierten nicht opportune Filmemacher vor einem Jahr noch vom kurzen Kulturfrühling im Zuge der Olympia-Bewerbung, hat sich die Situation seit der Zusage an Sydney wieder drastisch verschlechtert. Seitdem wird Chinas Bemühen um wirtschaftliche Liberalisierung von einem schwer durchschaubaren Schlingerkurs in Sachen Demokratisierung begleitet.

Angesichts des bevorstehenden fünften Jahrestags des Tiananmen- Massakers am 4. Juni geht jetzt erst recht die Angst um: Die Behörden befürchten Unruhen, die politischen Dissidenten neue Verhaftungen. Nicht nur auf der Cannes- Pressekonferenz zu „Leben“ werden deshalb vorsichtige Töne angeschlagen; man hält sich überhaupt diplomatisch zurück. Das Festival an der Côte d'Azur hat zu Zhangs Nichterscheinen in Cannes keine Stellungnahme abgegeben. Allerdings fehlt auf der Croisette unter den Fahnen sämtlicher auf dem Festival vertretener Nationen die von Taiwan. Vermutlich aus Rücksicht auf China, das in dem Nachbarstaat nur eine volkseigene Republik sieht. Warum die stereotype Aufforderung zur Nichteinmischung in innere Angelegenheiten aber auch dazu führt, daß in der westlichen Öffentlichkeit über die Berufsverbote bislang kaum berichtet wurde und selbst der Spiegel im China-Kulturtitel seiner jüngsten Ausgabe die drastische Maßnahme mit keinem Wort erwähnt, bleibt unverständlich. Zu befürchten ist, daß es sich nicht um Diplomatie handelt, sondern um Ignoranz. Noch vor einem Jahr gab es Anlaß zur Hoffnung: Die Filmsaison 1992/93 hatte ganz im Zeichen Chinas gestanden.

Erfolge torpedieren

Auf den Festivals von Venedig, Berlin, Cannes und Tokio hatten chinesische Produktionen, darunter Zhang Yimous „Geschichte der Qiuju“ und Chen Kaiges „Lebewohl, meine Konkubine“, die Goldenen Löwen, Bären und Palmen gewonnen. Das weltweite Augenmerk auf Filme made in China wurde anfangs auch von interner Liberalisierung begleitet. Zhangs lange zurückgehaltene Werke „Judou“ und „Die Rote Laterne“ wurden freigegeben, „Qiuju“ hatte gar eine offizielle Premiere in Peking. Aber schon bald mischten sich in die Begleitmusik zum Siegeszug andere Töne; mittlerweile versuchen Chinas Filmfunktionäre, den internationalen Erfolg zu verhindern, wo es nur geht. Chens „Konkubine“ wurde verboten. Zhang Yuans (31) „Bejing Bastards“, eine Art chinesischer Punk-Film über das Überleben junger Leute zwischen Arbeitslosigkeit, Drogen, Liebe und Rockmusik, wurde auf dem Filmfestival in Locarno uraufgeführt; das Pekinger Filmbüro protestierte; Locarnos Festivaldirektor Marco Müller ist seitdem in China nicht mehr gerne gesehen. Das war im Juli.

Im September verließ die chinesische Delegation empört das Filmfestival von Tokio, weil dort ebenfalls „Bejing Bastards“ und „The Blue Kite“ auf dem Programm standen. Beide Filme waren an den Behörden vorbei produziert und ins Ausland geschafft worden, anders wären sie kaum entstanden: Das Rohmaterial zu Tians Film war zur Montage nach Japan geschmuggelt worden; auf ebenso abenteuerliche Weise gelangte der fertige Film vor einem Jahr zur Weltpremiere nach Cannes. Tian wurde behördlich gesucht, „aber“, so der Regisseur, „die chinesische Verfassung hat durchaus Sinn für Verhältnismäßigkeit. Ich habe nicht gemordet, nicht vergewaltigt, kein Feuer gelegt, also können sie mich nicht verurteilen.“ Er stellte sich, wurde verhört und wieder freigelassen.

In Tokio gewann „The Blue Kite“ den Hauptpreis des Festivals, auch die Filmfestspiele in Rotterdam im Januar 1994 nahmen das inkriminierte Werk ins Programm. Wieder wurde offiziell protestiert; Tian erhielt keine Ausreisegenehmigung. Der Regisseur kündigte daraufhin kurzentschlossen beim Pekinger Filmstudio und reiste als Tourist nach Europa.

Für das Hongkonger Festival Ende März gab Peking etliche der erwähnten Filme und dazu Clara Lawas „Temptation of a Monk“, eine weitere unabhängige Produktion, nicht frei. Das Festival zeigte sie trotzdem, zur Strafe zog Peking einige Klassiker zurück. Der Aufnahme von Zhangs „Leben“ ins Wettbewerbsprogramm von Cannes haben Chinas Filmfunktionäre ebenfalls nicht zugestimmt, einen offiziellen Protest gab es zwar nicht, aber eine Ausreisegenehmigung wurde dem populärsten Filmemacher Chinas anscheinend verweigert. Jüngste Meldung: Auch Yin Li, Regisseur des Cannes-Beitrags „The Story of Xinhua“ in der „Certain Regard“ wurde n a c h der Zhang-Premiere das Visum verweigert. Laut Auskunft des Verleihs gab es dafür noch letzte Woche keinerlei Anzeichen. Offenbar eine weitere Strafaktion.

Die Sorge um die Kontrolle über das Massenmedium Film (bei jährlich ca. 10 Milliarden (!) verkauften Kinotickets) geht mit der Angst um den Verlust des Meinungsmonopols im Nachrichtensektor einher. Am 7. Oktober 1993 wurde ein Gesetz zur Kontrolle von Satellitenanlagen erlassen; das neue Lizenzsystem erschwert den Zugang zu TV-Programmen ausländischer Sender, der private Empfang von TV-Signalen aus Hongkong und Taiwan ist damit praktisch verboten.

Zensur unterlaufen

Seit April ist es ausländischen Firmen außerdem untersagt, Kabelsender in China zu betreiben. Inwiefern die jüngste Meldung, daß der offizielle Pekinger Fernsehsender sein Programm demnächst landesweit über Satellit ausstrahlen will, einen zumindest kontrollierten Zugang zu Kabelsendern unausweichlich macht oder das Lizenzsystem insgesamt unterläuft, wird man sehen. Ebenso unklar ist, was hinter der soeben vermeldeten Ablösung des Ministers für Rundfunk, Film und Fernsehen steckt.

„Lebewohl, meine Konkubine“ dürfte das bekannteste Beispiel dafür sein, wie Chinas Filmemacher die Zensur unterlaufen: Sie koproduzieren mit Zweigstellen in Hongkong und Taiwan. Das Geld kommt aus den Nachbarrepubliken, gedreht wird auf dem Festland, geschnitten im Ausland. Diese Umwegstrategie will ein weiterer neuer Erlaß unterbinden. Koproduktionen sind jetzt genehmigungspflichtig und werden nur gestattet, wenn die Filmrechte in China bleiben. Außerdem sollen nur noch 25 Koproduktionen pro Jahr erlaubt sein. Auf die entsprechende Meldung vom Februar diesen Jahres reagierte das Kulturministerium mit einem halbherzigen Dementi: Westliche Produzenten seien durchaus gerne gesehen, solange sie auf die „chinesischen Empfindlichkeiten“ Rücksicht nehmen. Dennoch sehen Produktionsfirmen wie die mächtige Hongkonger Tomson-Group („Konkubine“) oder der Förderer unabhängiger Produktionen Shu Kei (siehe Interview) seitdem ihre Arbeit gefährdet.

Andere wiederum glauben nicht, daß die neuen Verbote überhaupt noch greifen. Zum einen halten sich die Provinzen nicht unbedingt an Pekinger Vorschriften; schon aus finanziellen Gründen wurde das Verbot der „Konkubine“ etwa in Shanghai praktisch unterlaufen. Im Zuge der wirtschaftlichen Öffnung können die halbwegs autonomen Provinzstudios mehr als zuvor ihre eigenen Handelsbeziehungen unterhalten; jetzt fürchtet sich Peking vor den kulturpolitischen Folgen dieser durchaus erwünschten ökonomischen Autonomie. Zum anderen arbeiten immer mehr junge Filmemacher ohne Zuschüsse. Zhang Yuan hat nach seinem Studium die Arbeit in einem der staatlichen

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Filmstudios abgelehnt; er verdient sich sein Geld mit Musikvideos bei MTV. „Beijing Bastards“ schnitt er – genauso wie seinen ersten, ebenfalls verbotenen Film „Mama“ – im Hotelzimmer. Wang Xiaoshuai hat sein düsteres Debüt „Wintertage, Frühlingstage“ über die Entfremdung eines Liebespaars (Berlinale-Forum 1994) mit 10.000 Dollar privat finanziert. Ähnlich enstand He Jianjuns Psychiatrie-Vision „Rote Perlen“ (ebenfalls Forum) innerhalb von 12 Tagen mit privaten Mitteln.

Die Reaktionen der Filmemacher selbst schwanken zwischen Gelassenheit und Trotz. Zhang Yuan will als nächstes einen Film über die Drogenszene drehen. Tian fordert Gesetze zum Schutz der Filmindustrie. Chen Kaige bezweifelt, ob das Filmbüro in der jetzigen Form in zwei Jahren überhaupt noch existiert. Produzent Shu Kei meint, niemand könne diese neue Generation vom Filmemachern abhalten, notfalls genüge eine Videokamera.

Wenn es einen Unterschied zwischen dieser jüngeren, der sechsten, Generation und den nur wenige Jahre Älteren gibt, dann liegt er im Grad der Diplomatie. Vertreter der sogenannten fünften Generation (das Studienjahr 1982) wie Zhang Yimou vermeiden etwa bei Interviews aus strategischen Gründen politische Themen. Sie gehen Kompromisse ein, weil sie in China arbeiten wollen (Chen Kaige will die Biographie von „Madame Mao“ verfilmen) und sich als Publikum die eigenen Landsleute wünschen. Die Jüngeren, die im Jahr des Massakers ihr Studium beendeten, verhalten sich weniger diplomatisch, auch wenn für sie das Exil genauso wenig eine Alternative darstellt: Das Gegenwartskino liegt beiden Gruppen gleichermaßen am Herzen.

Am 3. Juni, einen Tag vor Tiananmen, steht die Verlängerung der Meistbegünstigungsklausel durch die USA auf dem Kalender (siehe taz vom 16. Mai). Anders als in den Vorjahren hat dieses wirtschaftliche Anliegen diesmal nicht zu einem weicheren politischen Kurs geführt, im Gegenteil. Anläßlich des Jahrestages ist die Situation besonders gespannt, deshalb hat die Angst vor der Macht der Bilder zugenommen.

Vielleicht sind die jüngsten Verbote nur die letzten Amtshandlungen eines überalteten Apparats. Aber die Hoffnung auf eine baldige Demokratisierung darf für Chinas Handelspartner noch lange kein Grund sein, die faktische Verschärfung für politische Dissidenten, Künstler und Filmemacher mit Ignoranz zu strafen.