Die Erblast eines halben Jahrhunderts

In Albanien greift die Regierung zunehmend auf überkommene Methoden zurück. Doch auch der sozialistischen Opposition, die mehr Demokratie fordert, schlägt Mißtrauen entgegen  ■ Aus Tirana Thomas Schmid

Irgendein Witzbold hat sich die Mühe gemacht, es auszurechnen: Mit dem Zement, der gebraucht wurde, um die 700.000 Bunker zu bauen, die überall in Albanien wie Champignons aus dem Boden sprießen, hätte man eine zwei Meter hohe und fünfzig Zentimeter dicke Mauer um das ganze Land errichten können. Ein rein theoretisches Kalkül. Edi Karaj sieht das alles viel praktischer. Er hat sich an der Peripherie von Tirana einen Bunker ausgesucht, selbstverständlich einen von der größeren Sorte, hat ihn bunt angemalt, mit dem Allernötigsten eingerichtet und ist dann samt Frau und seinen zwei Kleinkindern in die Halbkugel eingezogen.

Von weitem sieht sein Häuschen wie ein großer Frosch aus, die Schießscharte bildet das breite Maul. Zwar kommt durch den einen Meter breiten und 20 Zentimeter hohen Schlitz nicht sonderlich viel Licht in die „Wohnung“, aber das ist Edi gerade recht. Wenn er zu Hause ist, sieht er ohnehin fern. Eine Antenne ziert den farbigen Bunker, den Strom zapft die Familie von der nahen Straßenleitung ab. Edis Traum ist eine Satellitenschüssel. Die Parabol-Antennen von „Sharp“ zieren überall die Häuser der albanischen Städte. Und es gibt tatsächlich auch schon Bunker, die damit ausgerüstet sind. Die Bevölkerung Tiranas ist in den letzten zwei Jahren von 300.000 auf 430.000 Menschen angewachsen. Vor allem aus dem extrem armen Nordosten Albaniens, wo nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch ganze Landstriche von jeder Versorgung abgeschnitten waren, sind Zehntausende vor dem Hunger in die Hauptstadt geflohen. Jetzt siedeln sie meistens in schnell zusammengezimmerten Baracken und notfalls eben auch wie Edi in Bunkern. Wohnraum in der Stadt zu finden ist so gut wie unmöglich. Oft leben drei und mehr Familienmitglieder in einem Zimmer. Und wenn jemand seine Wohnung aufgibt, die ihm der Staat vor zwei Jahren für 25.000 Lek, umgerechnet 400 Mark, übereignet hat, versucht er sie für 40.000 Mark einem Ausländer zu verkaufen oder für 600 Mark monatlich zu vermieten, was etwa einem Jahreseinkommen eines Albaners entspricht, wenn er denn überhaupt Arbeit hat.

Trotz vieler Anzeichen, daß in Albanien die Wirtschaft, die vor zwei Jahren buchstäblich am Boden lag, wieder in Gang kommt, herrscht weithin Katzenjammer. Die von der Regierung Berisha auf Weisung der internationalen Finanzinstitutionen verordnete Schocktherapie hat viele Menschen erbittert. Die Telefongebühren wurden jüngst verdoppelt, der Preis für Heizöl hat sich in einem Jahr vervierfacht, und die Kosten für Elektrizität sind seit Berishas Regierungsantritt vor zwei Jahren um 900 Prozent gestiegen. „Bei einem monatlichen Konsum von 300 Kilowattstunden“, rechnet Servet Pellumbi, „zahlst du heute 1.350 Lek, ein Drittel eines Monatslohns.“ Der Vizepräsident der Sozialistischen Partei fordert eine sozial abgefederte Marktwirtschaft, eine umsichtigere Privatisierung, einen sanfteren, weniger wilden Kapitalismus.

Vor allem aber fordern die Sozialisten, die aus den Parlamentswahlen vom März 1992 mit 26 Prozent als stärkste Oppositionspartei hervorgegangen sind und bei den Kommunalwahlen vier Monate später mit 41 Prozent knapp hinter der regierenden Demokratischen Partei lagen, angesichts der angespannten Lage vorgezogene Neuwahlen. Oder zumindest einen Runden Tisch, an dem sich alle Parteien beteiligen, um endlich eine Verfassung für das Land auszuarbeiten. Doch Präsident Berisha stellt sich taub. Er verfügt im Parlament immer noch über eine bequeme Mehrheit. Zur Verabschiedung einer Verfassung, der zwei Drittel der Abgeordneten zustimmen müßten, reicht es zwar nicht. Aber weshalb sollte er Interesse an einem Grundgesetz haben? Es läßt sich auch ganz gut so regieren, ja letztlich sogar besser. „Am liebsten würde er die Opposition überhaupt abschaffen“, ärgert sich Pellumbi, „uns behandelt er schlicht als Feinde.“

So ganz unrecht hat er bestimmt nicht. Anfang April jedenfalls wurde Fatos Nano, der bereits im vergangenen Sommer verhaftete Chef der Sozialistischen Partei, in einem juristisch höchst zweifelhaften Verfahren wegen Unterschlagung von Staatseigentum und Urkundenfälschung während seiner dreimonatigen Amtszeit als Premierminister im Jahr 1991 zu zwölf Jahren Gefängnis verknackt. Um eine Verurteilung zu erreichen, mußten zwei Staatsanwälte ausgewechselt werden. Das riecht nach politischer Justiz, auch wenn Präsident Berisha nicht müde wird zu betonen, der Fall Nano sei ein Fall für die Gerichte, und die seien in einem demokratischen Land nun einmal unabhängig.

Nach der Inhaftierung des Oppositionsführers versuchten die Sozialisten über eine Mobilisierung ihrer Anhänger, über Massendemonstrationen und Meetings die Regierung unter Druck zu setzen. Das Regime gab sich hart. Es kam zu einer Reihe von sogenannten polizeilichen Übergriffen, Mitglieder der Sozialistischen Partei wurden verprügelt, unter windigen Vorwänden festgenommen oder in ihrer Bewegungsfreiheit beschnitten. Das Regime Berishas, behaupten die Sozialisten, nehme immer mehr Züge des alten kommunistischen an.

Sie mögen recht haben, doch besonders glaubwürdig sind sie dennoch nicht. Immerhin ist die Sozialistische Partei die Nachfolgeorganisation der kommunistischen Partei der Arbeit, die das Land fast ein halbes Jahrhundert lang mit eiserner Hand regiert hat. „Berisha war 25 Jahre Parteimitglied und in der Kardiologie-Station seines Krankenhauses sogar Parteisekretär“, sagt Pellumbi, der 30 Jahre lang an der juristischen Fakultät der Universität von Tirana Philosophie doziert hat und nur einfaches Parteimitglied war. „Skender Gjinushi, der Präsident der Sozialdemokraten, war während der Diktatur drei Jahre Kulturminister.“ In der Tat hat sich fast die ganze politische Klasse des heutigen Albanien mit dem alten System kompromittiert. Doch muß man gerechterweise auch sagen, daß die Diktatur Enver Hodschas, der sein Volk mit Gulags, Sippenhaft, Folter und Mord unterjocht hat, für eine Dissidenz, wie sie sich in der DDR oder gar in Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei entwickeln konnte, keinen Raum ließ. Trotzdem, es läßt sich schlechterdings nicht bestreiten, daß die Funktionäre des alten Systems sich vor allem in der Sozialistischen Partei wiederfinden, auch wenn die vorgibt, sich neu gegründet zu haben.

Auch der Schriftsteller Theodor Keko warnt vor der autoritären Wende des Regimes. Er ist Abgeordneter der Demokratischen Allianz, einer liberalen Abspaltung der Demokratischen Partei, und Chefredakteur von Aleanca, dem Parteiorgan. Über dem linken Auge hat er zwei tiefe Narben. Vor 40 Tagen haben ihn vor seinem Haus zwei Männer mit Eisenstangen zusammengeschlagen. „Gestohlen haben sie mir nichts“, sagt er, „ein klarer Fall von Einschüchterung.“ Das seien nun mal Berishas Methoden. Im übrigen hat er sich vor Gericht für einen Artikel seiner Zeitung zu verantworten, in dem der Polizei vorgeworfen wird, den Mörder eines Mitglieds seiner Partei gedeckt zu haben. Daß so ein Prozeß kein Pappenstiel ist, mußte jüngst die unabhängige Zeitung Koha Jone, nach dem sozialistischen Organ Zeri i popullit zweitgrößtes Blatt im Land, erfahren. Ein Redakteur wurde wegen Verleumdung zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt, der Chefredakteur, dem sieben Monate aufgebrummt wurden, konnte sich noch rechtzeitig in die Schweiz absetzen. Theodor Keko kommt die Erinnerung an alte, längst vergangen geglaubte Zeiten hoch.

Agim Musta wird die Erinnerung an diese Zeiten nie mehr los. Zwölf Jahre lang hat der ehemalige Gymnasiallehrer gesessen, bloß weil er 1961 versuchte, eine sozialdemokratische Partei zu gründen. 18 Jahre verrichtete er deshalb Schwerstarbeit auf dem Bau. Jeden Tag kommt er in den großen, etwas heruntergekommenen Salon im Haus des Schriftsteller- und Künstlerverbandes, einem Bau in italienischem Stil, das in der vorkommunistischen Zeit als Offizierscasino der Armee des Königs Zogu gedient hat. Hier in den schweren Plüschsesseln läßt sich bei einem Täßchen des landesüblichen schweren süßen Kaffees trefflich über Politik und Literatur diskutieren. Oft kommt Musta auch nur her, um die Zeit totzuschlagen. Nach dem Sturz der Diktatur hat er mit einigen Leidensgenossen die „Vereinigung ehemaliger Häftlinge“ gegründet. Deren Forderung nach Wiedergutmachung ist das Regime bislang nicht nachgekommen. „Die verlorenen 30 Jahre können sie mir nicht zurückgeben“, sagt Musta, „aber wenigstens soll man uns den Lohn bezahlen, um den man uns geprellt hat.“ Alle drei Flughäfen des Landes, eine Reihe von Staudämmen, eine Eisenbahnlinie, Bewässerungskanäle wurden in Zwangsarbeit errichtet. „Wenn jemand in Albanien den Sozialismus aufgebaut hat“, spottet der Ex-Häftling, „dann waren es die politischen Gefangenen.“ Über 3.000 von ihnen hätten sich in all den Jahren zu Tode geschuftet, 7.000 bis 8.000 Ehemalige leben noch heute. Sie wenigstens müßten nun eine Wiedergutmachung erhalten.

Im vergangenen Jahr hat Musta ein Buch veröffentlicht. Es trägt den Titel „Die Mandelas Albaniens“ und handelt von der Geschichte des Bauern Sami Dangellia, der 43 Jahre gesessen hat, weil er ins Ausland flüchten wollte; von Musine Kokolari, die unter der nationalsozialistischen Besetzung im Herbst 1943 eine sozialdemokratische Partei gegründet hatte und als Sozialdemokratin von den Kommunisten 20 Jahre Haft und 18 Jahre Lager aufgebrummt bekam; von Gjegji Komninos, der 25 Jahre aus dem Verkehr gezogen wurde, weil er einem italienischen Journalisten einen Report über die Situation Albaniens zugesteckt hatte; vom Gymnasiasten Ilia Treska, der ein Graffito „Nieder mit dem Kommunismus“ mit 25 Jahren Haft büßte; vom Poeten Kudret Kokoshi, der zwei Jahre im KZ Mauthausen verbrachte und dann 20 Jahre in Burrel, dem berüchtigtsten Gefängnis Albaniens; von Ali Maliqi, der 25 Jahre bekam und einen Monat vor seiner Freilassung im Gefängnis ermordet wurde; vom orthodoxen Bischof Visarion Xhumani, der 20 Jahre, und dem katholischen Pater Meshkalla, der 30 Jahre hinter Gittern verschwand.

Über 30 Jahre nach seinem Versuch, eine sozialdemokratische Partei zu gründen, für den er einen so hohen Preis bezahlt hat, ist Musta nun Mitglied der albanischen Sozialdemokraten. Er kritisiert Berishas autoritäre Politik, die Prozesse gegen die Journalisten, aber eine Koalition mit den Sozialisten, die dieselbe Kritik äußern, ist für ihn absolut unvorstellbar: „Das sind alles kamouflierte Kommunisten, von einigen wenigen Ausnahmen mal abgesehen, und ich habe die Kommunisten kennengelernt.“ Weshalb denn auch seiner eigenen Partei ein gewendeter Kommunist vorsteht, kann er nicht schlüssig erklären. „Das ist eben in Albanien so“, meint er schulterzuckend, „bei uns gibt es keine Demokratie.“