Der heiße Stuhl auf Schloß Bellevue

■ "Parteienklüngel oder Plebiszit", so hieß das Leitmotiv im Kampf um Richard von Weizsäckers Nachfolge als Bundespräsident. Geht der Trend zu mehr Bürgerbeteiligung weiter, dann hat sich die Sache...

„Parteienklüngel oder Plebiszit“, so hieß das Leitmotiv im Kampf um Richard von Weizsäckers Nachfolge als Bundespräsident. Geht der Trend zu mehr Bürgerbeteiligung weiter, dann hat sich die Sache gelohnt.

Der heiße Stuhl auf Schloß Bellevue

Mehr Präsident war nie. So viele KandidatInnen wie zur Wahl des siebten Bundespräsidenten sind in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht angetreten. Nie ist vor dem Votum eine längere und heftigere Debatte ausgetragen worden. Und nie haben so viele Bürgerinnen und Bürger die Wahl als ihre eigene Angelegenheit betrachtet, obwohl doch am Pfingstmontag in der Bundesversammlung nur 1.324 Wahlfrauen und -männer stimmberechtigt sind.

Seit Monaten sammeln Frauen Unterschriften für Hildegard Hamm-Brücher, kämpft der Verein „Bürgerpräsident Jens Reich“ tapfer und ohne Aussicht auf Erfolg für seinen Kandidaten. Anhänger des NRW-Ministerpräsidenten schalten teure, mit Spendengeldern bezahlte Zeitungsanzeigen („An die Wahlfrauen und Wahlmänner...“).

Auch die Rechtsextremisten wollten im langen Vorlauf der Wahl mitmischen. Der Hamburger Neonazi-Führer Christian Worch schlug im Herbst seinen Kampfgefährten vor, eine „nationale Kampagne“ für die Wahl Steffen Heitmanns zu starten, der zu diesem Zeitpunkt noch offizieller CDU- Kandidat war. Dessen Nachfolger hat erklärt, daß er eine Wahl mit Extremistenhilfe nicht annehmen würde.

Leben und Wirken von Kandidatin und Kandidaten sind öffentlich seziert worden. Wir kennen die langweilige Ferienwohnung des Verfassungsgerichtspräsidenten, die für Schöner Wohnen nicht taugt (Süddeutsche Zeitung). Wir wissen nun, wie man mit Bibelzitaten Menschen fängt. Wir bedauern die armen Opfer der autoritären Grande Dame des deutschen Liberalismus. Den Weltbürger aus Berlin-Pankow aber wünschen wir uns noch immer als Staatsoberhaupt.

Wir haben gelesen, was amerikanische Psychologen aus Schriftbild und äußerer Erscheinung der Präsidablen ableiten (Raus Körperhälften passen nicht zueinander). Wir haben zur Kenntnis genommen, wie Kulturkritiker im Blindversuch die Lieblingsgedichte der Kandidaten interpretieren (einen „pompösen, kalten Wert-Konservativen mit Plüsch- Geschmack“ entdeckte Sigrid Löffler in Herzogs Lyrik-Ich). Wir vermissen höchstens noch Auftritte in der TV-Show „Heißer Stuhl“, eine psychoanalytische Interpretation ihrer Lieblingsspeisen und eine tiefenorthopädische Deutung ihrer Fußabdrücke.

Der Aufwand steht in seltsamem Kontrast zur verfassungsrechtlich festgeschriebenen Passivität des Volkes bei dieser Wahl – und auch zur Berechenbarkeit ihres Ausgangs. Nur die Liberalen können noch für eine Überraschung sorgen. Aber mit gutem Grund hat die FAZ im Bemühen der KandidatInnen um das öffentliche Interesse einen Schritt hin zum Plebiszit erkannt und gewarnt: „Folgenlos ist das nicht.“

Die Auseinandersetzung um eine stärkere Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an den politischen Auseinandersetzungen bildete ein Leitmotiv der Präsidentschaftskampagnen 1993/94. Zu verdanken ist die Zuspitzung im Zeitalter der Politikverdrossenheit zu gleichen Teilen den Anstößen des amtierenden Präsidenten, der Ungeschicklichkeit des Bundeskanzlers sowie einer Gruppe parteiloser Bürger mit Namen „Frankfurter Kreis“.

Richard von Weizsäcker kritisierte im Sommer 1992 die Selbstherrlichkeit der Parteien und sprach sich für mehr plebiszitäre Elemente aus, ohne dabei schon die Präsidentenwahl zu erwähnen. Ähnliche Ideen ventilierten die in Frankfurt tagenden Intellektuellen, die mit einem parteilosen Präsidenten namens Reich den etablierten Parteien ein Stück Macht nehmen wollten.

Zwar bügelten die Sozialdemokraten den Vorschlag nieder, indem sie sich früh für Rau entschieden. Dafür gab ausgerechnet Helmut Kohl der Plebiszit-Idee nachhaltigen Auftrieb, als er im Spätsommer 1993 den sächsischen Justizminister Steffen Heitmann als Vertreter des Ostens zum idealen Kandidaten erhob.

Der im Umgang mit Medien wenig erfahrene Sachse warnte in den kommenden Monaten denn mal vor der Überfremdung deutscher Kultur, erklärte unter Demokraten verbreitete Einschätzungen der NS-Geschichte für angreifbar oder versuchte Frauen Heim und Herd schmackhaft zu machen. Die Presse reagierte bissig ohne Rücksicht auf die Empfindlichkeiten eines überforderten Menschen. Heitmann trat Ende November zurück. Das Desaster, für das ein kleiner Kreis in der CDU-Spitze Verantwortung trug, beförderte den Wunsch nach Mitsprache. Bot nicht eine öffentliche Entscheidung über eine Kandidatin oder einen Kandidaten Gewähr dafür, daß sich ein ähnliches Trauerspiel nicht wiederholt?

Jetzt brachen die Parteilinien auf: In Union, SPD und FDP fanden sich nur einzelne prominente Fürsprecher eines Plebiszits. Allein Bündnis 90/Grüne und PDS machten sich geschlossen dafür stark. Dabei gibt es gewichtige Einwände gegen die Volkswahl: Die Erwartungen an den Präsidenten wachsen. Seine eng begrenzten Kompetenzen („keine Macht, viel Autorität“) müßten diesem Druck angepaßt, das Gleichgewicht zwischen den Verfassungsinstitutionen müßte neu ausbalanciert werden.

Auch ohne neue Kompetenzen haben sich die Erwartungen an den Präsidenten im vergangenen Jahr verändert. Wie immer das neue Staatsoberhaupt heißen wird: Seine Leistung wird daran gemessen werden, wie er mit der Distanz zwischen Politik und Gesellschaft umgeht. Dabei hängt sein Gewicht nicht nur von ihm selbst ab, sondern auch vom Ausgang der Bundestagswahl – im Wechselspiel mit dem Kanzler findet er seine Rolle. Die Aufgabe ist schwer genug: Er muß der Herausforderung der Fremdenfeindlichkeit begegnen, dem Osten den Westen erklären (und umgekehrt), einer Gesellschaft mit immer weniger Arbeit und ohne garantierten Zugewinn an Wohlstand Ziele zeigen und die noch so unklare Außenpolitik der größeren Bundesrepublik repräsentieren.

Für einige dieser Aufgaben hat sich Roman Herzog mit (angeblich mißverstandenen) Äußerungen zur Doppelstaatsbürgerschaft nicht gerade empfohlen. Wenn er am Montag gewählt wird, dann dürfen sich die Bürger nach der langen Debatte enttäuscht fühlen. Eine große Mehrheit, so wissen die Meinungsforscher, würde Johannes Rau vorziehen. Und die meisten Deutschen wollen ohnehin lieber selbst über ihr Staatsoberhaupt entscheiden.

Fünf Jahre dauert die Amtszeit. Wenn das Drängen auf stärkere Bürgerbeteiligung in dieser Zeit nicht verlorenginge, sondern sich von der Präsidentenwahl auf andere Felder der Politik verschöbe – die lange Debatte hätte sich gelohnt. Hans Monath, Bonn

Fotos: Reuter, argus, Zenit,

Third Eye; Montage: taz