Keiner ging hinter dem Sarg

■ Erst nach drei Wochen erfuhr der Strafgefangene Detlef Sch. von der Beerdigung seines drogenabhängigen Bruders, der kurz zuvor aus der Haft gekommen war

Der 37jährige Claus Sch. war schon drei Wochen unter der Erde, als sein 40jähriger Bruder und einziger Angehöriger Detlef Sch. davon erfuhr. Die Familienbande waren nicht das einzige, was die beiden einte: Claus verbrachte mit Abständen siebzehneinhalb Jahre seines Lebens hinter Gittern. Detlef sitzt zur Zeit gerade eine dreijährige Freiheitsstrafe im Tegeler Knast ab.

„Was die mit Claus gemacht haben, ist säuisch“, empört sich Detlef. Claus starb am 29. April 1994 an einer Überdosis Heroin – genau fünf Tage nachdem er wieder einmal ohne Entlassungsvorbereitung aus dem Knast gekommen war. Die letzten Wochen hatten sich die Brüder drinnen eine Zelle geteilt. „Claus hatte totalen Schiß vor der Freiheit. Er wollte am liebsten mit mir zusammen entlassen werden, damit ich ihm helfe, in ein Polamidon-Programm zu kommen“, so Detlef. Doch der ältere Bruder hat erst am 8. Juli 94 Strafende. Und so landete Claus draußen prompt wieder auf der Drogenszene. Während einer früheren Haftzeit hatte er der Gefangenenzeitung Lichtblick in einem Interview berichtet, daß er sich durch die Benutzung einer gemeinsamen Spritze im Tegler Knast mit dem HIV-Virus infizierte. Das Gespräch liest sich heute fast so, als habe er sein Ende geahnt: „Ich bin wohnungslos, drogensüchtig, HIV-positiv (...) Ich habe mich oft genug an die Anstaltsleitung gewandt, an verschiedene Hausleiter, habe mich angemeldet zur Drogenstation, habe zum Senat geschrieben – eine Hilfe ist mir da überhaupt nicht angeboten worden. Jetzt werde ich demnächst entlassen, aber es passiert nichts, nichts.“

Die Nachricht vom Tode seines Bruders ereilte Detlef Sch. am 30. April in der JVA Tegel. Vergebens versuchte er einen Knast-Urlaubstag zu bekommen, um den Nachlaß und die Beerdigung zu regeln. Anstaltsleiter Lange-Lehngut lehnte ab: Bei Detlef Sch. bestehe Fluchtgefahr, weil dieser schon einmal aus dem Freigang abgehauen war. Den Hinweis, daß der Gefangene im Sommer entlassen wird, ließ der Anstaltsleiter nicht gelten. Er sagte Detlef Sch. aber zu, daß er zur Beerdigung von Justizbeamten „ausgeführt“ werden könne.

Das Problem war nur: Detlef Sch. erfuhr den Termin erst, als der Bruder bereits zu Grabe getragen worden war. Nicht einmal einen Kranz hatte er schicken können. Die Mitarbeiter der Haftentlassenenhilfe Neukölln, mit denen Detlef Sch. mehrfach wegen der Beerdigung telefoniert hatte, weisen jegliche Schuld von sich. „Wir sind nur für die Kostenübernahme zuständig, eine Benachrichtigung der Angehörigen ist in unseren Vorschriften nicht vorgesehen“, verwahrte sich der zuständige Amtsleiter Willy Klischat gegen die Nachfrage der taz. Außerdem sei er vom Bestattungsinstitut nicht über das Datum informiert worden. Die Mitarbeiterin des Beerdigungsinstituts „Werner und Peter“ erklärte wiederum, sie hätten nicht von einem inhaftierten Hinterbliebenen gewußt. Das Sozialamt „hat uns das nicht mitgeteilt“. Es handele sich wohl um „eine Verkettung widriger Umstände“, suchte die Bestatterin nach tröstenden Worten für Detlef Sch.: „Der Verstorbene wurde nicht verscharrt, sondern würdig in einer Grabstelle mit Namensschild beerdigt. Ein Pfarrer war da, und die Orgel hat gespielt.“ Plutonia Plarre