Kein Tusch für Roman Herzog

■ Reichstag: Statt Volksfest gab's bei Dauerregen, Bannmeile und 1.300 Polizisten nur tote Hose vor dem Wahllokal

Am Vormittag, kurz bevor der Dauerregen einsetzte, spielte die Luftwaffenkapelle der Bundeswehr einen Tusch auf den noch unbekannten neuen Bundespräsidenten. Das Blasmusikkonzert auf der Skulpturenwiese im Tiergarten war, wie das gesamte Umfeld um den Reichstag, streng abgeschirmt. Neugierigen BerlinerInnen und TouristInnen blieb nur ein Blick aus der Ferne. Viele zogen angesichts der Absperrgitter enttäuscht wieder von dannen. „Ich dachte, der Reichstag ist fürs Volk“, schimpfte ein Passant. Andere, wie Manfred Wese, der zum Reichstag gekommen war, um seinen Wunschkandidaten Johannes Rau vielleicht zu sehen, fand es weniger schlimm: „Ist doch mal was anderes“, kommentierte er das Aufgebot der Polizei, die mit 1.300 Beamten auf alle Eventualitäten vorbereitet war. Der Ostberliner Schauspieler Peter Reusse, der die „vage Hoffnung“ hatte, den „Kandidaten ins Gesicht zu schauen“, konnte die übermäßige grüne Präsenz nicht ertragen. „Wenn ich so viele Polizisten sehe, werde ich nervös“, und ging nach Hause. „Terrorakte oder Irre sind nie ganz auszuschließen“, begründete der Landesschutzpolizeidirektor Gernot Piestert den Großeinsatz. Für die Suche nach möglichen Sprengsätzen wurden auch Spürhunde eingesetzt. Allein aus Sicherheitsgründen sei ein Volksfest am Wahltag von vornherein nicht in Frage gekommen, rechtfertigte sich der Chef des Reichstags, Hans-Jürgen Heß. Deswegen habe man auch auf eine Videowand verzichtet.

Der gegen Mittag einsetzende Dauerregen hielt freilich immer mehr Menschen davon ab, hinter den Absperrungen auszuharren. Auch Werner Brenner zog pitschnaß nach drei Stunden mit seinem kleinen Plakat, auf dem er Roman Herzog fragte: „Bitte, wie stehen Sie zur Tibet-Frage?“ von dannen – ohne eine Antwort.

Im Zelt des „Bürgerbund“ war man ebenfalls unter sich. Nur einige wenige Mitglieder lauschten den Worten des Vorsitzenden Michael Kanno, der „eine direkte Wahl des Bundespräsidenten vom Volk“ forderte. Selbst die angekündigten Bärbel Bohley und Günter Nooke erschienen nicht. Hildegard Hamm-Brücher, die die Zeit zwischen dem zweiten und dritten Wahlgang nutzte, um der „Fraueninitiative für eine Bundespräsidentin“ einen Besuch in deren Zelt auf der Skulpturenwiese abzustatten, fand es „überlegenswert, ob wir fürs nächste Mal eine Direktwahl vorbereiten“. Vor dem Frauenzelt war die einzige Möglichkeit, über einen kleinen Fernseher von außen zu verfolgen, was hinter den dicken Mauern des Wallot-Baus vor sich ging. Mit Begeisterung nahmen die Frauen das Ergebnis nach dem ersten Wahlgang, in dem Hamm-Brücher 132 Stimmen erhalten hatte, auf. „Toll, toll, toll“, rief Helga Lukoschat von der Initiative, die im September letzten Jahres gegründet wurde. „Ist das nicht ein Spitzenergebnis?“ freute sich auch Barbara Schaeffer-Hegel, die für die Initiative im Reichstag war. Ein Sieg von Hamm-Brücher wäre für sie ein „Signal für Gleichberechtigung“ gewesen. Für Carola von Braun, ehemalige FDP-Fraktionsvorsitzende, wäre eine Bundespräsidentin ein „gutes Zeichen für die Republik“ gewesen. Als Hamm-Brücher im silberfarbenen Kostüm aus einem silberfarbenen Mercedes stieg, drängten sich etwa dreißig Frauen um sie. Statt Scampi- Spieße im Reichstag zu essen, nahm sie mit belegten Brötchen im Zelt vorlieb. Eine Frau schenkte ihr ein Pfennigstück. Wenn sie es mit der linken Hand über die linke Schulter werfe, gehe ein Wunsch in Erfüllung. Hamm-Brücher warf die Münze mit der rechten Hand – und schied nach dem zweiten Wahlgang aus. Als der Bundespräsident gewählt war, hatten die letzten Zaungäste längst den unwirtlichen Platz verlassen – und die Luftwaffenband auch. Barbara Bollwahn