Was haben wir gelacht

Über die letzten Tage von Cannes  ■ Von Thierry Chervel

Nein, kein Resümee, keine Zusammenfassung des Auseinanderstrebenden, keine Festivalbilanz, in der ein Kritiker am Ende, gegen ein symbolisches Zeilenhonorar, einen Trend erkennen, einen Sinn geben, eine Auskunft erteilen soll.

Keine Spekulation auch über die Frage, ob Hollywood hier so abwesend war, weil es wegen Frankreichs Position im Gatt-Streit etwa noch muckelte. Ich halte diese Frage für Quatsch – so sentimental sind die Majors nicht. Wenn sie einen Film gehabt hätten, bei dem sie es für sinnvoll gehalten hätten, ihn hier zu lancieren, dann hätten sie es versucht. Sie hatten wohl keinen. Schade ist nur, daß Spike Lee nicht kommen wollte, dessen neuer Film in den USA gerade angelaufen ist.

Und schließlich: keine Rede von der Krise – obwohl sie spürbar ist. Einer der Gründe für die Abwesenheit Hollywoods liegt in den Preisen, die hier verlangt werden. Selbst für die Majors wird die Stadt zu teuer. Einen großen Film zu lancieren, mit all dem mondänen Brimborium, das hier dazugehört, kann leicht eine Million Dollar kosten. Das Geld kommt nicht so schnell wieder rein. Vom Filmmarkt berichten die Branchenblätter, es seien zwar nicht weniger Filme verkauft worden als im letzten Jahr, aber die Preise seien gesunken – um 35 bis 40 Prozent.

Aber nein, über all das möchte ich hier nicht schreiben. Nicht einmal – die schlimmste Ungerechtigkeit – über meine Lieblingsfilme: „Eat Drink Man Woman“ von Ang Lee („Das Hochzeitsbankett“), die Geschichte eines alten Meisterkochs aus Taipeh und seiner drei Töchter, nebenbei einer der schönsten Filme über das Kochen seit „Tampopo“. Oder Hal Hartleys wunderbar nüchterner und trotzdem so zärtlicher „Amateur“. Oder Nanni Morettis Tagebuchfilm „Caro Diario“. Oder die interessant gescheiterten Filme: Patrice Chereaus „La reine Margot“, Zhang Yimous „Leben“, Alan Rudolphs „Mrs. Parker and the Vicous Circle“. Oder Atom Egoyans schwüler „Exotica“.

Statt dessen möchte ich über zwei Bilder nachdenken, die mich erschreckt haben und an denen mich fast mehr noch erschreckt, daß dieser Schreck nicht allgemein geteilt wird. Es geht also um moralische Fragen. Soll ich mich deshalb beim evangelischen Pressewerk bewerben?

Die Bilder kommen aus den beiden Filmen, die die letzten Tage in Cannes geprägt haben: Nikita Michalkows „Täuschende Sonne“ und Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“. Beide Filme haben weithin, wenn auch wohl nicht in den gleichen Fraktionen des Publikums, Begeisterung ausgelöst.

Erstes Bild

Bin ich pervers, oder ist es das Bild, das ich da sehe? Der Film spielt an einem heißen Sommertag des Jahres 1936 in Rußland. An einem Fluß tummelt sich eine bunte Badegesellschaft, darunter ein kleines, etwa sechsjähriges Mädchen. In einer Einstellung stellt sie sich hin, wie man es tut, wenn man außer Atem ist, vornübergebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, ihr weites, leichtes Sommerkleid wird nach vorne gezogen und legt sich ihr auf die Arme. Das Mädchen lächelt hoch in die Kamera, die ihr gegenübersteht und etwa aus Erwachsenenhöhe zurückblickt, direkt, so scheint mir, in den weiten Ausschnitt des Kleids hinein, unter dem das Mädchen nackt ist. Es kommt mir vor wie ein sexueller Appell, der seiner selbst nicht bewußt ist, wie eine Ausbeutung von Unschuld.

Die Kamera: Das ist der Vater, denn Michalkow führt in „Täuschende Sonne“ nicht nur Regie, sondern spielt auch die Hauptrolle, den Revolutionshelden Sergej Kotow, dessen Töchterchen wiederum von Michalkows eigener Tochter, Nadia, gespielt wird. Nichts war mir in diesem Festival so unangenehm wie die vorgeführte Innigkeit der Beziehung zwischen dem Vater, der sich so lieb aufführt wie der Onkel aus der Bonbon-Reklame, und der Tochter, die in dieser Konstellation perfekt funktioniert. Wie der Vater sich als rauhes-aber-zärtliches Mannsbild aufpflanzt und die Tochter sich an seinen starken Arm schmiegt, wie die beiden während einer Bootsfahrt und im Dampfbad inniglich miteinander kosen und poussieren: das rührte in Cannes viele verwandte Seelen.

Kotow ist als herzensechter Haudegen ein Fremdkörper in der einst großbürgerlichen, etwas dekadenten, aber als sympathisch- chaotisch dargestellten Familie, in die er eingeheiratet hat und in deren Datscha der Film spielt. Die Idylle schildert Michalkow zunächst in lichtdurchfluteten Weichzeichnerbildern und lärmiger Fröhlichkeit. Seine Inszenierung ist virtuos. Als Dimitri hinzustößt, gibt es noch kein Vorzeichen auf das böse Ende. Dimitri, ebenfalls ein bürgerliches Element, liebte Marussia, bis er verschwand und sie sich für Kotow entschied. Warum der elegisch-elegante Steptänzer verschwand und die harte Zeit des Bürgerkriegs im Pariser Exil verbrachte, wird nicht ganz klar – offensichtlich mochte er sich nicht zwischen den Roten und den Weißen entscheiden. Jetzt jedenfalls, so kommt es nach und nach heraus, arbeitet der charmante Weichling für den NKWD und ist nur gekommen, um Kotow, den vom Volk als Väterchen verehrten, Stalins Schergen ans Messer zu liefern.

Der Film beruht auf einer wahren Geschichte. Scheußlich, was für eine Dolchstoßlegende vom Verrat an der wahren Revolution Michalkow daraus schmiedet. Und hat ihm schon mal jemand gesagt, wie sehr er in seiner Selbststilisierung – dem Augenzwinkern aus lustigen Lachfalten, dem stattlichen, durch stetes Zwirbeln und Glattstreichen hervorgehobenen Schnurrbart, der klebrigen Kinderliebe – dem Genossen Vorsitzenden selber gleicht?

Zweites Bild

Ist das Bild obszön, oder bin ich selber nur „politisch korrekt“? Das ist allerdings der schlimmste Vorwurf, den man einem denkenden Menschen machen kann. Wer heute nicht „Neger“ sagt, ist ein sozialpädagogischer Langweiler, wer einen guten Schwulenwitz weiß, soll ihn um Gottes willen nicht zurückhalten. Dieser Moral weiß sich Quentin Tarantino verpflichtet, der Chouchou der letzten Tage in Cannes. „Pulp Fiction“ ist herrlich amüsant.

Aber zum Bild: John Travolta als Gangster wischt sich Blut und ein paar Hirnreste vom Revers. Sie sind ihm irgendwie lästig. Gerade hat er einem vielleicht siebzehnjährigen Jungen im Fond des Autos in den Kopf geschossen, aus Versehen eigentlich, die Pistole ging von selber los. Na, das ist ja eine Sauerei! Das hat total rumgespritzt, das ganze Auto, Travolta und sein Gangsterkollege Samuel L. Jackson sind voll verschmiert. Es stellt sich also die Frage der Entsorgung. Das Auto wird bei einem Freund geparkt, der allerdings Dampf macht. Seine Frau kommt gleich von der Nachtschicht nach Hause, die wird die Scheidung einreichen, wenn sie diesen ganzen Dreck in ihrem Puppenheim sieht. Also wird der „Cleaner“ gerufen, Harvey Keitel in seiner Lieblingsrolle. Der schafft es glatt, die Leiche und die Spuren innerhalb von zwanzig Minuten zu beseitigen.

Hyperrealistische Gewaltdarstellung, Gewalt als Routinejob, versetzt mit den angelegentlichen Dialogen von Profis – daraus bezieht Tarantinos Film seine Heiterkeit. Übrigens weiß der Regisseur dabei genau, wie weit er gehen darf. Gewisse Grenzen akzeptiert er. Er zeigt nicht den zerschossenen Kopf des Jungen, nur den Effekt, den er anrichtet. Denn Tarantino ist ein Streber: Er will das ganz große Publikum, dafür macht er auch den einen oder anderen Kompromiß. Signifikant ist, daß er sich in einem Gewaltbild selbst zitiert. Einem Mann – in „True Romance“ war es ein Weißer, der wie ein Schwarzer sein wollte, hier ist es ein Schwuler – wird ins Geschlecht geschossen.

Mit dem Bild des sich krümmenden, wimmernden Mannes, auf dessen Hosenboden sich malerisch ein Blutfleck breitmacht, signiert Tarantino seine Bewerbung bei den Hollywood-Oberen. Gewalt ja, aber bitte keinen Sex! So weit wollen wir die Grenzen des Unkorrekten nun doch nicht verschieben. Es sind die gleichen Tabus, die auch MTV bejaht, wenn es in einer Eigenwerbung Adam und Eva in Badehose und Bikini auftreten läßt. Kein Wunder also, daß die kleinen Liebesgeschichten, die Tarantino in den drei Episoden von „Pulp Fiction“ nebenbei erzählt, von eben jenem mickrigen Romantizismus sind, der sich immer schon gern mit der Brutalität verband.

Zwar ist Tarantinos Film ziemlich lang, zweieinhalb Stunden, und im Grunde ebenso ereignisarm und zusammengestoppelt wie jene unbeliebten Dritte-Welt- Filme, in denen allein ein paar politisch Korrekte ausharren, aber bei Tarantino macht das nichts. Die Kritiker sind trotzdem begeistert. Schließlich ist der Film ja „Pulp“, also „billig“, „Schund“. Und wer sich selbst nur aggressiv genug als billig bekennt, dem wird es als sublim gedankt. Man möchte sich ja identifizieren können und präpariert beflissen die unverschämtesten Plagiate als „Zitate“ heraus: Jarmusch in der Verschachtelung der Episoden, Lynch in der Liebe zum schaurigen Detail, Besson in der Figur des Cleaners.

Und was haben wir gelacht, das muß man ja auch mal sagen: das Lachen der Zuschauer von Rostock.

Das war in Cannes, 1994.