Thorp für drei Monate stillgelegt

In der britischen Wiederaufarbeitungsanlage sind zwei Tage nach Betriebsbeginn vier Tonnen Salpetersäure ausgelaufen / Zwischenfall wurde verheimlicht und heruntergespielt  ■ Von Ralf Sotscheck

London (taz) – Kaum war die größte Plutoniumschleuder Europas Ende März in Betrieb gegangen, da mußte sie nach einem Unfall schon wieder stillgelegt werden. Wie die Betreiberfirma der gigantischen Wiederaufarbeitungsanlage Thorp (Thermal Oxide Reprocessing Plant) erst jetzt bekanntgab, entschloß man sich vorsichtshalber zu diesem Schritt, nachdem vier Tonnen Salpetersäure ausgelaufen waren. Die Säure hatte Kontrollinstrumente und elektrische Kabel zerstört; 50 Arbeiter mußten evakuiert werden. Ursprünglich hatte die Betreiberfirma British Nuclear Fuels (BNFL) den Zwischenfall heruntergespielt und erklärt, daß die nur zwei Tage zuvor begonnene erste Phase der Wiederaufarbeitung ungestört weitergehen würde.

Für BNFL ist die erneute Verzögerung äußerst peinlich. Die 2,8 Milliarden Pfund (7,3 Mrd. Mark) teure Anlage, die auf dem Gelände der Atomfabrik Sellafield im Nordwesten Englands steht, war schon vor mehr als zwei Jahren fertiggestellt worden. Aufgrund von 100.000 Beschwerden aus dem In- und Ausland mußte die Inbetriebnahme jedoch immer wieder verschoben werden. Erst im März entschied ein Londoner Gericht, daß die Regierung rechtmäßig gehandelt habe, als sie Thorp die Betriebsgenehmigung erteilte. Die Betreiber hatten damals darauf hingewiesen, daß der durch die Verzögerung entstehende Produktionsausfall zwei Millionen Pfund pro Woche kosten würde. Davon ist jetzt jedoch keine Rede mehr: Diesmal koste der dreimonatige Produktionsausfall keinen Penny, weil in dem Finanzplan „Zeit für unvorhergesehene Fälle“ enthalten sei, wie ein Sprecher der Firma sagte. Die Zeit könne man in diesem Bilanzjahr, das im April 1995 endet, leicht wieder wettmachen. Trotz des Optimismus ist Thorp jedoch längst zu einem finanziellen Alptraum geworden, da die Wiederaufarbeitung weitaus teurer als die Endlagerung ist und für das anfallende Plutonium kaum Bedarf vorliegt. Für die ersten zehn Jahre sind die Verträge allerdings unter Dach und Fach. So sollen unter anderem aus Japan 2.673, aus Deutschland 969 und aus der Schweiz 422 Tonnen verbrauchter Brennstäbe geliefert werden.

Der Unfall hat den Zweifeln an der Sicherheit der Anlage neue Nahrung gegeben. In einem Untersuchungsbericht, den mehrere Bezirksverwaltungen in Auftrag gegeben hatten, hieß es, daß es „eine Katastrophe von zehnfachem Tschernobyl-Ausmaß“ geben würde, wenn bei einem der Lagerungsbecken für hochradioaktiven Müll die Kühlung ausfiele. Je nach Windrichtung müßten zwischen 2 Millionen und 28 Millionen Menschen evakuiert werden.