Tanzstücklein, orphisch

■ Ende einer Abwicklung: Reinhild Hoffmanns letzte Tat in Bochum

Reinhild Hoffmann ist entschlossen, es ihrem Publikum nicht leicht zu machen. Schon der befremdlich anmutende Titel ihres neuen Tanzstücks macht klar, daß es um harten Stoff geht: „Denn ein für alle Mal ist's Orpheus wenn es singt“ (Rilke).

Ein letztes Aufbegehren? Die Choreographin, die sich drei Jahre Zeit nahm für eine ästhetische Neuorientierung und in dieser Phase nur zwei kleine Stücke in einem alten Zechengelände herausbrachte, wird mit ihrer Truppe von den Bochumer Politikern geopfert. Das Ende von Steckels Intendanz am Schauspielhaus Bochum zur Spielzeit 1994/95 bedeutet auch das Ende des Tanztheaters: Das Ensemble wird aufgelöst, die Sparte Tanztheater ersatzlos gestrichen.

Die Choreographin hat sich von diesem Schock künstlerisch nicht irritieren lassen. Wie in „Zeche eins“ und „Zeche zwei“ beschäftigt sie sich auch in ihrem neuen Stück, das sie seit langer Zeit wieder für die große Bühne des Schauspielhauses choreographiert hat, mit einem Stoff aus der griechischen Mythologie.

Doch bei aller Sympathie für die gefeuerte Choreographin erschrickt man erstmal, wenn sich der Vorhang hebt. Reinhild Hoffmann will in ihrem durchgängig von Renaissance-Musik begleiteten Stück gleichzeitig bedeutungsschwere allegorische Bilder entwerfen und Geschichten erzählen. Und man ahnt es schon: Das wird schiefgehen. Während fünf auf der Bühne sitzende Musiker, gekleidet in Renaissance-Gewänder, in Cembalo und Harfe greifen, schwebt eine Sängerin mit Flügeln, Weltkugel und Reifrock auf einer Schaukel schwingend und singend vom Bühnenboden herab. Ein als Amor verkleideter Tänzer verschießt seine Pfeile, andere spielen Krieg. Die verliebte Eurydike schwebt im Bühnenhimmel, hellblaue Wolken-Soffitten werden in die Höhe gehalten, Eurydike sammelt auf einer goldglänzenden Scheibe die allerbuntesten Blumen und drückt sie herzallerliebst an die Brust – bis dann die böse Schlange kommt und kräftig zubeißt. Kitsch in Reinkultur.

Als man schon einige Zentimeter tiefer in den Sessel gesunken ist, nimmt der Abend dann doch noch eine überraschende Wendung. Für Orpheus' Gang in die Unterwelt

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findet Reinhild Hoffmann so einfache wie grandiose Bilder. Sie steckt die Frauen des Hades in dunkle Kleider und bindet ihnen schwarze Tücher um die Augen: Die Wesen der Unterwelt, die leblos auf umgekippten Stühlen kleben, sind des Augenlichts, der Möglichkeit von Wahrnehmung und Erkenntnis beraubt.

Mit schwebend-traumverlorenen Bewegungen balanciert Orpheus auf diagonal über den Bühnenboden gespannten Drahtseilen: Das über den Styx führende Boot als Saiteninstrument – eine Reise in die Unterwelt im Geist der Musik. Und eine prägnante Übersetzung des Mythos von Orpheus, der mit seinem Gesang selbst die Götter des Hades erreichen konnte. Sich ineinander drehend tritt das Liebespaar den Rückweg an. „Schau mich nicht an“, heißt das Gebot. Der Hades als „das Unsichtbare“ oder „unsichtbar Machende“, das nicht Anzuschauende, wird für Orpheus unerträglich: Im letzten Moment will er es wissen, reißt seiner Liebsten die Binde von den Augen – und kann sie, die zurück in die Unterwelt taumelt, doch nicht sehen.

Reinhild Hoffmanns Version des Orpheus-Mythos vertanzt den irreparablen Riß, der durch die Menschheit geht: die Spaltung in Bewußtsein und bedrohliches Unbewußtes. Der verbotene orpheische Blick zurück als Wille zur Erkenntnis und als Sündenfall (wobei man sagen muß, daß der Hades wesentlich sympathischer ist als der paradiesische Zustand der Anfangssequenz), das Einssein als nicht wieder herstellbares utopisches Moment.

Was bleibt, ist bloß der Wunsch nach Ganzheitlichkeit – und der Schmerz als Lebensmotor. Ein prägnantes allegorisches Bild entfaltet die Choreographin über eine halbe Stunde lang: In einem Kreis gefangen drehen sich Persephone und Eurydike wie zwei Trabanten um sich selbst, während Orpheus und der König der Unterwelt sich auf der anderen Bühnenseite, von Stühlen eingepfercht, in rat- und sinnlosen Kontaktversuchen zerreiben. Im Hintergrund exerzieren lauter Paare stumpf und mechanisch sich wiederholende Bewegungsabläufe: zugerichtete Opfer, die nichts über sich selbst und nichts vom anderen wissen.

Intelligent und gut gedacht ist Reinhild Hoffmanns Orpheus- Version ja, trotzdem hinterläßt sie gemischte Gefühle: Tanzen läßt die Choreographin ihre Tänzer nicht. Nicht minimalistisch, sondern dürftig ist das Bewegungsmaterial, so daß selbst die hervorragende Eurydike-Darstellerin Isabel Fünfhausen sich nicht mehr zu helfen weiß und etwas hilflos mit den Armen rudernd in die Unterwelt zurücktrudelt. Dem Stück kann man nur Überarbeitung wünschen. Der nicht enden wollende Applaus war wohl leider nicht viel mehr als ein Solidaritätsklatschen für die gefeuerte Choreographin. Michaela Schlagenwerth

„Denn ein für alle Mal ist's Orpheus wenn es singt“. Ch.: Reinhild Hoffmann, Bühnenbild und Kostüme: Andrea Schmitt-Futterer, Sopran: Marie Jonas, Tanz: Isabel Fünfhausen, Christine Ott Robert Allen u.a.