: Auf zum letzten Gefecht
In Ruanda sind Armee und regierungstreue Milizen so gut wie geschlagen / Beim Rückzug werden die letzten Zivilisten zum Endkampf mobilisiert ■ Aus Gitarama Bettina Gaus
In der ruandischen Gemeinde Mugina, etwa 30 Kilometer südlich der Hauptstadt Kigali, wird ein neuer Bürgermeister vereidigt. Der bisherige ist umgebracht worden. Von wem? Dazu mögen sich die befragten Bauern der Umgebung nicht äußern. Die Auswahl an Möglichkeiten ist allerdings nicht allzu groß: Milizen der ehemaligen Einheitspartei MRND (Revolutionäre Nationale Bewegung für Entwicklung) des am 6. April getöteten Präsidenten Juvénal Habyarimana und Teile der Armee sind es Augenzeugenberichten zufolge vor allem, die für die Massaker der vergangenen Wochen verantwortlich sind. Bis zu 500.000 Menschen sollen bereits getötet worden sein.
Der neue Bürgermeister von Mugina, Martin Ndamage, ist ebenfalls vom Tod bedroht. Seine größte Sorge allerdings ist derzeit die Rebellenbewegung RPF (Patriotische Front Ruandas), deren Streitkräfte nur noch durch einen Fluß von der Gemeinde getrennt sind. Der Bedrohung wird Rechnung getragen: Das Rathaus, im Tal gelegen, ist von den umliegenden Hügeln aus gut einsehbar und wäre ein leichtes Angriffsziel. So wird die Vereidigungszeremonie verlegt. Unmittelbar an einer Seitenstraße, durch Bäume geschützt, stehen einige Metallstühle für die Ehrengäste und ein niedriger Fahnenmast mit der ruandischen Flagge. Die etwa 400 Zuschauer – in ihrer Mehrheit junge Männer – müssen gelegentlich vorbeikommenden Armeefahrzeugen Platz machen. Armeefahrzeugen? Soldaten sitzen auch in Geländewagen des UNO-Welternährungsprogramms. Fast alles, was in Ruanda vier Räder hat, wurde vom Militär zwangsrekrutiert.
Die Armee kämpft nicht, sie plündert und mordet
Die Regierungsarmee kämpft das letzte Gefecht. Seit die RPF am Sonntag den Flughafen von Kigali eingenommen hat, sehen viele der Soldaten auf den Straßen eher aus, als warteten sie auf eine Mitfahrgelegenheit zur rettenden Grenze eines Nachbarlandes als auf einen Kampf mit dem Gegner. Womit sollten sie auch noch kämpfen? Kaum einer zeigt auch nur einen Patronengurt. Schwere Waffen sind nirgendwo zu sehen. Ruandas Armee, deren Mitgliederzahl sich seit Ausbruch des Bürgerkrieges mit der RPF 1990 fast verzehnfacht hat, ist schlecht ausgerüstet und undiszipliniert. Hunderte, vielleicht Tausende von Soldaten sind bereits desertiert, gehorchen keinem Kommando mehr, ziehen mit mordenden Milizen marodierend und plündernd durch das Land.
Jetzt wird die Bevölkerung mobilisiert. Es gelte, der RPF zu widerstehen und nicht zu flüchten, erklärt Major Jean Damascine Ukurikiyeye anläßlich der Vereidigungszeremonie den Bewohnern von Mugina. Falls die Bevölkerung nicht über Waffen verfüge, solle sie sich eben mit ihrer eigenen Körperkraft den Rebellen in den Weg stellen. Dreißig Gewehre werden verteilt und ihr Gebrauch erklärt. Die RPF auf der anderen Seite des Flusses verfügt aber über Artilleriegeschütze.
„Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Auto, das Sie nicht mehr kontrollieren können, und Sie müssen trotzdem weiterfahren. So ist das hier“, meint der Präfekt der Stadt Gitarama, Fidèle Uwizeye. Die Gemeinde Mugina gehört zu seinem Bezirk. Zur Vereidigung des neuen Bürgermeisters ist er angereist, um eine Rede zu halten. Auch er, im Amt seit 1992, ruft zur „Gegenwehr“ gegen die RPF auf. Aber er mahnt die Bevölkerung auch, nicht mehr alle Tutsi blindlings zu verfolgen und umzubringen. Wer damit beschäftigt sei, ein Tutsibaby zu töten, der lasse zu diesem Moment die RPF ungehindert passieren.
Derartige Äußerungen erfordern Mut. Die jahrhundertelang herrschende, ursprünglich feudalistisch organisierte Minderheit der Tutsi, die erst kurz vor der Unabhängigkeit 1962 von der Mehrheit der Hutu von der Macht vertrieben worden war, war in den letzten Wochen das Hauptangriffsziel der mordenden Banden. Exiltutsi, die bei dem Umsturz vor mehr als drei Jahrzehnten zu Hunderttausenden ins Ausland geflüchtet waren, bilden das Rückgrat der RPF. Im vergangenen Jahr hatte die Regierung Habyarimana mit der Rebellenbewegung einen Friedensvertrag geschlossen, der unter anderem die Bildung einer gemeinsamen Regierung und Armee sowie die Heimkehr der Exilanten vorsah. Extremistische Hutu-Politiker aber hatten auch danach Ängste vor einem angeblichen Griff der Tutsi nach der alleinigen Macht geschürt. Mitglieder der von der RPF nicht anerkannten Regierung, die im April nach dem Tod Habyarimanas gebildet worden war und ihren Sitz aus Sicherheitsgründen von Kigali nach Gitarama verlegt hat, riefen offen zu Völkermord an den Tutsi auf, die etwa 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen: „Die Gräber sind noch nicht voll.“
Die Aufforderung zum Töten wird bis heute befolgt. In Gitarama hausen etwa 35.000 Flüchtlinge, die meisten von ihnen Tutsi. Dicht aneinandergedrängt, ohne Unterkünfte, nur mit grauen Wolldecken des Roten Kreuzes, haben viele Schutz bei der Kirche gesucht. Die aber kann ihnen diesen Schutz nicht bieten: jeden Tag und jede Nacht werden zwanzig, dreißig Flüchtlinge aus dem Lager der Missionsstation Kabgayi geholt und getötet – von Milizen und von Militärs.
Niemand kann wagen, den Tätern Einhalt zu bieten. Wer sich den Mördern in der Weg stellt, wird selbst zu ihrem Opfer. Viele Soldaten sollen den Massakern ablehnend gegenüberstehen – aber wer dagegen seine Stimme erhebt, der läuft Gefahr, als „Spion“ oder „RPF-Sympathisant“ verdächtigt zu werden. Je weiter der Auflösungsprozeß der Armee fortschreitet, desto zahlreicher werden Liquidationen in den eigenen Reihen. Ohnehin sind in den vergangenen Wochen nicht nur Tutsi, sondern auch alle Hutu, die als Kritiker Habyarimanas galten und derer die Milizen habhaft werden konnten, niedergemetzelt worden.
Der Bürgerkrieg in Ruanda ist keine „Stammesfehde“, sondern der Kampf einer autoritären Oligarchie um den Erhalt der Macht. Diese Macht war schon vor dem Friedensvertrag mit der RPF bedroht: 1992 mußte Habyarimana der Einführung des Mehrparteiensystems zustimmen. Die Regimekritiker, die für die Demokratisierung gekämpft hatten, waren jetzt gesuchte Ziele der Mörderbanden.
Vor Jahren bereits hat Habyarimanas frühere Einheitspartei MRND aus ihren jugendlichen Mitgliedern Milizen gebildet. Die scheinen auf die Situation gut vorbereitet worden zu sein: unmittelbar nach dem noch immer mysteriösen Flugzeugabsturz Habyarimanas am 6. April begannen landesweit die Massaker. Unter den Mördern kursierten Todeslisten.
Die Flüchtlinge in Gitarama aber leiden und sterben in ihrer Mehrheit nicht einmal für ihre Überzeugung, sondern ausschließlich aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, die sich in Ruanda einer Eintragung im Personalausweis entnehmen läßt. Ihr einziger Schutz ist bizarrerweise die Anwesenheit der Regierung in der 50 Kilometer südlich von Kigali gelegenen Stadt – ein allzu großes Blutbad am Sitz des Kabinetts würde das internationale Ansehen noch mehr ramponieren, als das ohnehin schon geschehen ist.
Ist das Kabinett überhaupt noch in Gitarama? Seit die RPF den Flughafen Kigalis erobert hat, war kein Minister mehr zu sprechen. „Es gibt Gerüchte, daß die Regierung weg will aus Gitarama. Dann wird das Töten dort beginnen“, meint ein ruandischer Intellektueller, der nicht namentlich zitiert werden möchte. Er habe viele Tutsi-Freunde gehabt, aber keinerlei Möglichkeit, diesen zu helfen. „Ich glaube, daß ich auch getötet werde.“ Der Mann möchte fliehen – aber wie? Ausländischen Hilfsorganisationen gelingt es nicht einmal, Waisenkinder ins rettende Ausland zu evakuieren. Weiße sind in Ruanda bisher nur angegriffen worden, wenn sie sich schützend vor Bekannte und Kollegen stellten. Aber mehr als einmal mußten sie ohnmächtig zusehen, wie vor ihren Augen ein Blutbad angerichtet wurde.
Milizen und Soldaten sind auch weiterhin eine Gefahr für jeden Ruander, der ihnen verdächtig erscheint. Auf den 120 Kilometern zwischen Gitarama und der Grenze zum Nachbarland Burundi versperren etwa dreißig Straßensperren den Weg. Noch immer stehen Milizen mit Macheten gemeinsam mit Soldaten, die Gewehre und alte Handgranaten tragen, an Baumstämmen, die quer über der Straße liegen. Hier kommt keiner durch, der auf einer Todesliste steht oder dessen Ausweis die falsche Ethnie ausweist.
Der Völkermord in Ruanda geht weiter. Kein einziger der 5.500 UN-Soldaten, deren Entsendung der Weltsicherheitsrat vor einer Woche beschlossen hat, ist bisher eingetroffen. Die Flüchtlinge in Kabgayi wissen, was ihnen droht. „Wir müssen sterben“, sagt einer. „Alle.“
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