„Es war wie ein Erdbeben“

Raketenangriff auf Jemens Hauptstadt  ■ Aus Sanaa Khalil Abied

Familie Haggar ist nur knapp dem Tode entronnen. „Wir wollten gerade zu Abend essen, da hörten wir eine Explosion. Es war wie ein Erdbeben“, beschreibt die Mutter, Amatah, was sie am Montag abend in Sanaa erlebt hat. Um 20.20 Uhr Ortszeit schlug eine Scud-Rakete in das Mehrfamilienhaus ein, in dem die achtköpfige Familie wohnte. Wie sie und ihre Angehörigen überlebten, weiß Amatah selbst nicht. „Wir haben nichts mehr gesehen. Es wurde plötzlich dunkel, und die Luft war voller Rauch.“ Sie habe ihre Kinder schreien hören und gespürt, daß sie zwischen Trümmern lag.

Familie Haggar hat ihr Glück dem Umstand zu verdanken, daß sie in der obersten Etage des dreigeschossigen Hauses wohnte. Die neun Mieter aus dem zweiten Stockwerk und die Mitglieder der Familie Zabibah aus dem Parterre werden vermißt. Vermutlich liegen sie unter Trümmern, die jetzt, am Morgen danach, abgetragen werden. Acht Häuser wurden durch den Einschlag zerstört. In dem knapp hundert Meter entfernten Al-Dschumhuri-Krankenhaus gingen die Fensterscheiben zu Bruch. Nach bisherigen Informationen wurden mindestens 13 Menschen getötet, über hundert verletzt.

Nach nordjemenitischen Angaben wurde die Rakete aus dem abtrünnigen Süden des Landes abgefeuert. Der schleunigst an den Ort des Geschehens geeilte Innenminister Jahia Al-Mutawakil beschuldigte „die Separatisten“, für den Angriff verantwortlich zu sein. Der Norden werde sich dafür „an der Front revanchieren“. An der Einschlagstelle skandierten Männer: „Tod den Verbrechern der Sozialistischen Partei! Tod Al-Beid!“

Die Führung des Südens um den Chef der Sozialistischen Partei, Ali Salim Al-Beid, wies jede Verantwortung für den Angriff zurück. Für die Darstellung des Nordens spricht jedoch, daß die Rakete in dem Stadtteil Al-Qaa einschlug, nur knapp einen Kilometer vom Präsidentenpalast entfernt. Möglicherweise galt sie dem Hausherren, Jemens Präsident Ali Abdallah Saleh. Die am Samstag von der Führung des Südens offiziell vollzogene Abspaltung hatte er für illegal erklärt. Gegen den Präsidenten des Südens, Al-Beid, und alle Mitglieder der Südregierung erließ er Haftbefehl. Truppen des Nordens belagern Aden, die Hauptstadt des Südens, um die Sezession militärisch rückgängig zu machen.

Nach nordjemenitischen Angaben handelt es sich bei der in Familie Haggars Haus eingeschlagenen Scud um die 23. Rakete, die seit Kriegsbeginn im Norden des Landes niederging. Wieviele Geschosse die Militärs des Nordens auf den Süden abfeuerten, ist in Sanaa nicht zu erfahren. Mittlerweile geht die Rede von einem „Raketenkrieg“ zwischen Sanaa und Aden. In Sanaa haben die Raketeneinschläge zu Panik geführt. Viele Bewohner sind aus der Stadt geflohen. Die Gassen zwischen den weltberühmten Lehmbauten wirken wie ausgestorben. Die Mehrheit der Bewohner Sanaas stammt aus Dörfern, und viele von ihnen sind jetzt dorthin zurückgekehrt, um erst einmal abzuwarten.

Viele Einwohner hatten Sanaa bereits verlassen, bevor Raketen aus dem Süden einschlugen. Sie befürchteten, im Schatten des Krieges zwischen Norden und Süden könne womöglich innerhalb der Stadt ein Stammeskrieg ausbrechen. Denn neben dem Konflikt zwischen beiden Landesteilen existieren im Jemen Rivalitäten zwischen konkurrierenden Clans. Die politische und militärische Elite des Nordens wird traditionell von Angehörigen der Hasched- Stämme dominiert. Präsident Al- Saleh gehört zu einer Untergruppierung der Hasched. Sie konkurrieren mit den Stämmen der Bakil. Diese im Norden zahlenmäßig stärkste Bevölkerungsgruppe war bis zur Vereinigung von der politischen Macht ausgeschlossen.

Nach der Vereinigung vor vier Jahren versuchte dann die Sozialistische Partei, früher Staatspartei des Südens, eine Allianz mit den Bakil einzugehen. Von der ungewöhnlichen Kooperation versprachen sich beide Seiten Vorteile. Die Sozialisten wünschten sich eine Basis im Norden, und die Chefs der Bakil erhofften sich Unterstützung gegen die Hasched. Großzügig statteten die Sozialisten die Stammesoberen mit Geld und Waffen aus. Doch die erhoffte Loyalität blieb aus. Bei den Wahlen im April 1993 stimmten nur wenige Angehörige der Bakil für die Sozialisten, und im jetzigen Krieg verhalten sich die Stämme bisher neutral. Ein politischer Beobachter interpretiert dieses Verhalten so: „Die Stämme wollen sich nicht in dem Konflikt zwischen den politischen Führungen mißbrauchen lassen. Sie warten ab, um sich später auf die Seite des Siegers stellen zu können.“