Revolution im weißen Kittel?

Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität lauteten die Schlagworte des deutschen Ärztetages / Doch die Ärzteschaft versäumt es, ihr „revolutionäres“ Programm mit Inhalt zu füllen  ■ Von Martina Habersetzer

Berlin (taz) – Wenn heute zum 43. Mal in Berlin der deutsche Ärztekongreß tagt, eine der traditionellsten Fortbildungsveranstaltungen für Mediziner, dann wird es dort auch diesmal kein politisches Forum geben. Dabei ist es erst eine Woche her, daß der deutsche Ärztetag ein „von sozialer Verantwortung“ geprägtes neues gesundheitspolitisches Programm verabschiedet hat und die Ärztekammern in Berlin und Brandenburg großspurig die Wende der Ärzteschaft von der Monetik zur Ethik verkündeten – und schon geht wieder alles zur medizinischen Tagesordnung über.

Dabei täte es dringend not, all die großen Worte wie Eigenverantwortung, Subsidiarität und Solidarität, mit denen die Ärzte in Köln um sich warfen – allen voran der Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber – auch mal tatsächlich mit Inhalt zu füllen. Denn ansonsten liegt der Verdacht nahe, daß wieder einmal nur die Solidarität der Weißkittel untereinander gemeint ist.

Die Mauer zwischen ambulanter ärztlicher Versorgung und Krankenhausbehandlung soll gänzlich fallen, heißt einer der am meisten gefeierten Beschlüsse des Ärztetages. Für den Patienten revolutionär: Er bräuchte nicht mehr wie bisher von Arzt zu Arzt rennen, um schließlich mit der endlich gestellten Diagnose im Krankenhaus zu landen – wo er dann bekanntlich noch einmal die gesamte Diagnostik über sich ergehen lassen muß. Vor allem die Ostdeutschen kennen die angenehmen Seiten einer solchen Verzahnung bereits aus eigener Erfahrung, Stichwort Poliklinik.

Merkwürdig nur, daß die gleichen Ärzte, die sich mit solchen Forderungen heute so fortschrittlich geben, vor vier Jahren alles mobilisiert haben, um genau diese Strukturen im Osten des Landes kaputtzumachen. Wollen die Mediziner tatsächlich mit neuen Konzepten eine bessere und durchdachtere Versorgung der Bevölkerung erreichen, oder streben sie nicht vielmehr einfach nur nach neuen Pfründen, wie Peter Thelen, Redakteur des Handelsblatt vermutet? Wie dieses neue und im übrigen ausgesprochen erstrebenswerte Modell nämlich in der Praxis umgesetzt werden soll, darüber schweigen sich die Ärzte weitgehend aus.

Es liegt der Verdacht nahe, daß die Kassenärztliche Bundesvereinigung für die Ärzte schlichtweg zusätzliche Verdienstmöglichkeiten sucht – Belegbetten für den niedergelassenen Facharzt und für den Krankenhausarzt eine eigene Sprechstunde. Die „Einführung des Verursacherprinzips“ haben die Delegierten des Ärztetages zwar abgelehnt, Menschen mit ungesundem Lebenswandel oder gefährlichen Hobbys sollen auch in Zukunft nicht zusätzlich zahlen. Dennoch plädierte die Ärzteschaft in ihrem Grundsatzpapier noch einmal heftig an die Eigenverantwortung des Patienten.

Appelle an die Politik blieben jedoch aus: Eher muß sich ein schwer allergiekrankes Kind um einen gesünderen Wohnsitz bemühen, als daß sich die Schar der Mediziner dazu herabläßt, ein Tempolimit oder gar den Ausstieg aus der Kernenergie zu fordern.

Statt dessen erklärte sich die Ärzteschaft dazu bereit, den Leistungskatalog der Krankenkassen zu durchforsten, um ihn so von Unnützem, Unwirksamem und Unwirtschaftlichem zu befreien. Die Vorstellung, daß da tatsächlich noch was zu holen sein soll, ist so absurd, daß selbst die AOK, ansonsten froh über jede finanzielle Entlastung, sich empörte. Der ärztliche Vorschlag, bei Heil- und Hilfsmitteln zu sparen, trifft ausschließlich den Patienten. Das Geld, das bisher für Zahnersatz und Hörgeräte ausgegeben werden mußte, soll statt dessen zusätzlich auf die Ärzte verteilt werden, vermutet zielsicher die Süddeutsche Zeitung. Und auch der Vorschlag, noch mehr Medikamente vom Leistungskatalog der Kassen zu streichen, kostet die Ärzte keinen Pfennig. Bluten muß der Patient – ein Zuckerkranker beispielsweise zahlt für seine lebensnotwendigen Medikamente schon jetzt durchschnittlich 70 Mark im Monat zu.

„Gespräche statt Medikamente“, forderte wie immer der Berliner Ärztekammerpräsident Ellis Huber, bloß: inzwischen scheint er seine Forderungen längst nicht mehr so vehement zu vertreten wie früher. Offenbar ist seine taktische Rücksichtnahme auf die konservativen Verbandsärzte inzwischen stärker als der Wille zur Durchsetzung seiner eigenen Politik. Dabei hat sich an der ärztlichen Wirklichkeit nichts geändert: Gespräche mit dem Patienten werden von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), zuständig für die Honorare der Kassenärzte, praktisch nicht bezahlt. Fakt bleibt, daß ein Facharzt mit seiner High-Tech-Praxis vier- bis fünfmal soviel verdient wie ein einfacher Haus- oder Kinderarzt. Die teuren Geräte müssen ausgenutzt werden – also wozu lange mit dem Patienten reden, wenn nur der Einsatz des Ultraschallkopfes honoriert wird? Solange die niedergelassenen Ärzte jede einzelne (technische) Leistung vergütet bekommen, schreibt Thelen vom Handelsblatt, hat jedes Versorgungsangebot die Tendenz, sich seine Nachfrage selbst zu schaffen. An der Einzelleistungsvergütung aber wollen die Ärzte genauso festhalten wie am Versorgungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigung. Kein Wunder, daß vor allem die Fach- und Hausärzte in der KV heftigst untereinander zerstritten sind.

Der Seehoferschen Gesundheitsreform halten die Ärzte praktisch nichts entgegen, im Gegenteil: Auch sie befürworten grundsätzlich die geplante Aufteilung in Grund- und Wahlleistung der gesetzlichen Krankenkasse. Was aber heißt das? Muß auch hier in Zukunft zuzahlen, wer mit 66 noch eine neue Niere braucht, wie es in England schon jetzt der Fall ist?

Die Ärzte wollen mitmischen bei der Gesundheitsreform, das wurde auf dem Bundesärztetag mehr als deutlich. Doch um wessen Wohl geht es ihnen dabei eigentlich? Die Gesundheitsreform dient lediglich dem Ziel, die Lohnnebenkosten zu senken und damit die Arbeitgeber zu entlasten, meint der Frankfurter Orthopäde Winfried Beck, Mitbegründer der „Demokratischen Ärzte“, einer der wenigen linken Berufsverbände im deutschen Gesundheitswesen: „Die meisten Ärzte aber wollen trotz der geplanten Einsparungen weiter genausogut verdienen.“ Die vielzitierte Kostenexplosion im Gesundheitswesen habe es seiner Ansicht nach nicht gegeben, gemessen am Bruttosozialprodukt seien die Ausgaben seit 1979 gleich geblieben. Allerdings seien die Löhne de facto gesunken, für Kranken- und Rentenversicherung müssen die Arbeitnehmer doppelt zahlen – und somit auch die Arbeitgeber. Solche Zusammenhänge zu hinterfragen stand für den Bundesärztetag nicht zur Debatte. Im Gegenteil: „Die Abstimmung wurde mit einem Affenzahn durchgezogen, ich fühle mich hier wie auf einem SED-Parteitag“, maulte ein Ostdelegierter am Rande der Tagung. Das Kölner Manifest der „Demokratischen Ärzte“, das nicht nur die Öffnung des gesetzlichen Krankenversicherungssystems für Besserverdienende und die Qualitätssicherung der Ärzteschaft forderte, sondern auch die mangelhafte Gesundheits-, Sozial- und Umweltpolitik anprangerte, wurde in Köln erst gar nicht diskutiert. Nach der erfolgreichen Verabschiedung ihres „revolutionären“ Programms gingen die Ärzte statt dessen wieder zur täglichen Praxis über.