Unverblümte Wahrheiten eines bekennenden Bayern

■ Herzogs Antrittsrede machte gleich klar: Der neue Präsident ist nicht nur sprachlich auf die alte Bundesrepublik fixiert, sondern auch in seinen politischen Grundanschauungen

Es gibt eine gegen den Dialekt wie gegen den angeblichen Durchschnittstypus des Bayern gerichtete Antipathie, die sich aus ziemlich trüben, nämlich vordemokratischen Quellen speist. Gleich den Anhängern kriminologischer Lehren des 19. Jahrhunderts pflegen die Freigeister nördlich des Mains häufig die Idee von physiognomischen bzw. konstitutionellen Merkmalen, an denen man unfehlbar den bayrischen Mann, vor allem aber den bayrischen Polit-Verbrecher erkennt. Fettleibige, stiernackige, polternd Sprachbrocken ausstoßende Pykniker stellen den einen Phänotypus dar; magere, dünnlippige, fahrig gestikulierende, mit Schnurbart ausgestattete Leptosomen den anderen. Letzterer Typus hat uns das Dritte Reich eingebrockt, wenngleich der Merkmalsträger (zufällig) österreichischer Abstammung war. In unseren Tagen ist dieser Typus in Edmund Stoiber wiederauferstanden.

Ersterer war in Franz-Josef Strauß verkörpert und erlebt heute in der Person Roman Herzogs seine Inkarnation. Gegen den Rassismus in dieser Art von Klassifikationen hat sich noch keine Bürgerinitiative formiert. Das macht nichts. Denn wer ein aufrechter Antirassist ist, darf sich – bezüglich der eigenen Südstaatler – ruhig etwas rassistisch aufführen.

Roman Herzog ist bekennender Bayer und hat uns in zahlreichen Interviews angekündigt, er werde aus der bayrischen Tugend der Unverblümtheit eine der Maximen seiner Amtsführung machen. Diese Ankündigung kann man nur begrüßen. Selbst in den besten Tagen seiner Präsidentschaft war Richard von Weizsäcker allzusehr bemüht, seine Botschaft in Form von Abwägungsmodellen des Sowohl-Als-auch herüberzubringen, niemandem ernsthaft nahezutreten und Tadel möglichst in Kollektiv-Ermahnungen zu kleiden. Wer für die Beibehaltung des Artikel 16 GG eingetreten ist, kann über diesbezügliche Erfahrungen mit von Weizsäcker noch ein Liedchen singen. Unverblümtheit fördert den Streit. Wo steht geschrieben, daß das Amt des Präsidenten auf Konsens um jeden Preis ausgerichtet ist? Streit gilt als weitere bayrische Tugend. Wir sollten Roman Herzog beim Wort nehmen.

Der neue Präsident betont die Aufgliederung des deutschen Volkes in Stämme und macht aus seiner eigenen Herkunft kein Geheimnis. Nach dem abgeschliffenen, fernsehmundgerechten deutschen Fernsehidiom ist es ein wirkliches Labsal, die ganze formen- und gestaltungsreiche Mundart zu hören – hochdeutsch temperiert. Vergessen wir nicht, daß Theodor Heuß ein Schwäbisch praktizierte, das seinen nord- und westdeutschen Zuhörern fast ebensoviel verbarg, wie es ihnen offenbarte. Das wird dem Bayern Herzog nicht gelingen, und es ist auch nicht seine Absicht.

Der neue Präsident ist nicht nur sprachlich auf die alte Bundesrepublik fixiert, sondern auch in seinen politischen Grundanschauungen. Wenn er in seiner Antrittsrede von „uns“ sprach, meinte er die Bürger der alten Bundesrepublik. „Sie (liebe Ostdeutsche Landsleute) sind für uns keine Last, sondern Sie sind für uns ein Gewinn“ ... „Bei Ihnen ... ist vieles auch humaner gewesen als bei uns“ usw. Herzog spricht mit diesen improvisierten Sätzen auf bayrisch- unverblümte Weise ein Wahrheit aus. Der Vereinigungsprozeß war kein Spiel unter Gleichberechtigten. Jetzt, da Ihr Euch angeschlossen habt, werdet Ihr uns bereichern. „Wie müssen froh sein, und ich bin froh, daß Sie wieder bei uns sind.“ Provokatorische Sätze aus dem Geist des Paternalismus. Die Ossis, Opfer eines historischen Zufalls, einer Ungerechtigkeit, die die Amerikaner an der Elbe haltmachen ließ, sollen doch noch in den Genuß unserer zivilisatorischen Errungenschaften kommen. Wer, nicht nur in den neuen Ländern, der Meinung ist, daß die Vereinigung, so sie glücken soll, die gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen beider ehemaliger deutscher Staaten in Frage stellen muß, wird diesen Streithandschuh aufheben. „Unverkrampft“, wie es Herzog fordert, mit möglichst viel von der Eleganz und Selbstironie, die er uns wünscht – aber eben auch unnachgiebig.

Roman Herzog ist in den rechtstaatlichen und etatistischen bayrischen Traditionen großgeworden, an deren Anfängen der absolutistisch-aufklärerische Freiherr von Montgelas (auf bayrisch Monteglas) stand. Er ist kein Deutschnationaler, aber, trotz seiner europäischen Rhetorik, Anhänger einer starken, auch nationalstaatlich organisierten Obrigkeit. Von Weizsäcker hätte am liebsten aus dem Konpositum „Staatsbürger“ den ersten Teil herausgestrichen, für Herzog wäre eine solche Operation undenkbar. Bürger kann nur sein, wer Staatsbürger ist. Mit der civil society hat der Professor des öffentlichen Rechts nichts am Hut. Der Vorteil dieses politischen Weltbildes liegt darin, daß es nicht dumpf und unbewußt daherkommt, sondern klar, elaboriert und deshalb dem Meinungsstreit zugänglich. Das ist ziemlich viel für den Anfang. Christian Semler