Nur schlechte Verlieerer nörgeln

■ Mit seiner verbiesterten Reaktion auf das Verhalten der Liberalen bei der Wahl des neuen Bundespräsidenten hat Möchtegern-Kanzler Scharping im Kampf um die Ernte vom Herbst schon wieder Punkte verloren...

Mit seiner verbiesterten Reaktion auf das Verhalten der Liberalen bei der Wahl des neuen Bundespräsidenten hat Möchtegern-Kanzler Scharping im Kampf um die Ernte vom Herbst schon wieder Punkte verloren. Die FDP hat mit ihrer opportunistischen Wahlstrategie einmal mehr ihre Entbehrlichkeit unter

Beweis gestellt.

Nur schlechte Verlierer nörgeln

Wäre ich am Montag Wahlmann in der Berliner Bundesversammlung gewesen, hätte ich im ersten Durchgang Jens Reich als den klügsten Neuerer (und nicht als Ostdeutschen), im zweiten Hildegard Hamm-Brücher als Sprecherin einer aktiven Bürgergesellschaft (und nicht als Frau) und im dritten Johannes Rau als denjenigen gewählt, der die Bundesrepublikaner in West und Ost vermutlich am breitesten repräsentiert (und nicht als Wegbereiter eines sozialdemokratischen Kanzlers).

Daß ich kein Wahlmann war, ist wahrlich kein Schaden, und daß – wie zu erwarten – keiner der drei das Rennen gemacht hat – so what? Nur schlechte Verlierer karten nach, und Roman Herzog als Bundespräsident ist kein Verlust, auch wenn sein Focus-Interview in Sachen Staatsangehörigkeit tölpelhaft und seine Dankesrede schülerhaft war und sogleich die Vorzüge der ersten drei bestätigte. Wer jetzt als vermeintlicher Verlierer an Roman Herzog herummäkelt oder als angeblicher Sieger zu ihm aufblickt, zeigt nur seine politische Unreife. Auch Richard von Weizsäcker, der jetzt zu Recht mit Lob und Respekt überhäuft wird, war nicht von Anfang an der Bürgerpräsident, zu dem er sich nur entwickeln konnte, weil eine selbstbewußte Bürgergesellschaft dem kühlen und elitären Protestanten, der er immer blieb, dies abverlangte. Roman Herzog muß noch viel dazulernen – an uns ist es, ihn in Sachen Einbürgerung und manchen anderen Punkten auf den neuesten Stand zu bringen und ihn zum Präsidenten einer Reformära, nicht eines reaktionären Rückfalls zu machen.

Wählerinnen und Wähler haben dazu während der kommenden Wahlen ausreichend Gelegenheit, wenn nicht über Herzog oder Rau, übrigens auch nicht über Kohl oder Scharping, sondern über eine neue Mehrheit in Bundes- und Landtagen abgestimmt wird. Mit seiner verbiesterten Reaktion hat der Parteimann Scharping schon wieder ein paar Punkte verloren. Einer selbstbewußten Bürgergesellschaft ist es ziemlich egal, welche Person sie repräsentiert – und für den Herbst ist mit der Person Herzog noch gar nichts präjudiziert. Kohls Bauernregel: Wer im Mai sät, erntet im Oktober, ist ja kein Naturgesetz der Politik. Ein Herbst kann auch stürmisch sein – und ganz andere Früchte bringen.

Der „Wahlkampf“ vor dem 23. Mai hat die Forderung nach einer „Volkswahl“ populär gemacht. Alle drei unterlegenen Kandidaten, viele Sozialdemokraten und fast alle Grüne, sogar ein paar Christdemokraten, auch eine demoskopische Mehrheit erwärmen sich dafür, daß der Bundespräsident künftig per Plebiszit ermittelt wird. Dieser nur auf den ersten Blick verständliche Wunsch ist entweder von populistischer Naivität oder vom nicht mehr bloß heimlichen Wunsch nach einer Präsidialdemokratie getragen, wie ihn konservative Protagonisten jetzt äußern und wie ihn der hier eher liberale Staatsrechtler Herzog gottlob verschmäht. Nicht „wegen Weimar“, sondern um der neuen Bundesrepublik willen, die eine plebiszitäre Öffnung an anderen und wichtigeren Sachund Personalentscheidungen verdient.

Wer für die Volkswahl eintritt, stärkt den Präsidenten, der dann mit einer eigenen Legitimation ausgestattet ist. Warum? Das parlamentarische Wahlverfahren ist so übel nicht (auch wenn man sich eine andere, offenere Zusammensetzung der Bundesversammlung denken könnte), und elf Stimmen für „Republikaner“-Kandidat Hirzel sind allemal besser als zehn oder 15 Prozent für Le Pen oder 33 für Jörg Haider. Man hüte sich, dem Bundespräsidenten eine größere als moderierende Macht und „konzeptive Gewalt“ einzuräumen, wie sie Jens Reich angemahnt hat. Diese kann Herzog sogleich unter Beweis stellen, wenn er sich, wie gesagt, für eine Änderung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts und den Fortgang der europäischen Konföderation stark macht. Das wäre schon genug „Kohabitation“ à la française gegenüber einer Exekutive, die offenbar auf den Ohren sitzt, und einer parlamentarischen Mehrheit, die unter Schäubles Fuchtel und Scharpings Vorsicht nicht wagt, wozu sie zahlenmäßig längst fähig ist.

Eine abschließende Bemerkung zu den vermeintlichen Königs-, pardon: Präsidentenmachern. Die Liberalen haben sich wichtig gemacht. Kinkels FDP muß ihre angeblich strategische Bedeutung nur deshalb so wortreich herausstellen, weil sie ihr sonst kaum noch einer abnimmt. Herzog wäre auch ohne die liberale Morgengabe von 70 Stimmen gewählt gewesen, und Möllemanns Wichtigtuerei hat Rau eher geschadet. Wenn die FDP glaubt, damit für den Oktober aus dem Schneider zu sein, irrt sie sich gewaltig. Sie hat einmal mehr ihre Entbehrlichkeit und ihren Opportunismus unter Beweis gestellt, denn selbst ihre Kandidatin Hamm-Brücher ist, wie jedermann weiß, in der Opposition oder in einer Bürgerbewegung besser aufgehoben und gelitten als in der Partei der Besserverdienenden. Und nicht einmal zu diesem Etikett finden die Liberalen den Mut, nachdem sie im Vier- oder Fünfparteiensystem als Mehrheitsbeschaffer fast entbehrlich geworden sind. Daß sie jetzt dem Kanzler nach der verpatzten Heitmann-Kandidatur eine erneute Schlappe vermeiden halfen, nützt ihnen bei der Endabrechnung wenig. Wer jetzt so vehement und enttäuscht von der Volkswahl redet, kann dafür sorgen, daß aus der vagen und ambivalenten Stimmung für „mehr Demokratie“ eine harte Mehrheit wird, und daß die Interessenpartei FDP auf ihren schmächtigen Klientenstamm schrumpft. So wie im Mai nicht der Präsident direkt gewählt wurde, geht es im Herbst auch nicht um den Kanzler, sondern um die Chancen einer Reform der Innen- und Außenpolitik. Scharpings Leute haben sich bisher bedeckt gehalten und gesagt, daß sie fast alles so machen würden wie der Amtsinhaber; jetzt müssen die Vertreter der Bürgergesellschaft sagen und zur Entscheidungsalternative ausformulieren, was sie ändern und besser machen wollen. Claus Leggewie

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft in Gießen.