Proletarische Fäkalien auf adeliger Erde

Seit hundert Jahren landen die Abwasser aus Berliner Toiletten auf ostelbischem Großgrundbesitz in der Mark Brandenburg / Wegen erhöhter Giftbelastung Ende der Rieselfelder im Jahr 2000  ■ Von Hannes Koch

Der Berliner Schlamm hat sich zu einer graubraunen Masse verfestigt, deren obere Schicht wie sonnenverbrannter Wüstenboden von klaffenden Rissen durchzogen ist. Das Rieselfeld Großbeeren südlich der Berliner Stadtgrenze wartet auf den nächsten Schwall Dreckwasser aus den Gullys, Toiletten, Industrieabflüssen der Millionenstadt. „Was wir in dem Schlick schon alles gefunden haben...“, deutet Leo Faustmann an, der auf 41 Jahre Arbeit im Rieselfeld zurückblickt und 1993 in Rente ging. „Lumpen, Überzieher... den Gestank haben wir schon gar nicht mehr gerochen.“ Anders Walter Ulbricht, während der 50er Jahre Chef der DDR-Staatspartei SED. Der konnte die ausgedehnten Sickerflächen zu beiden Seiten der Landstraße von Großbeeren nach Potsdam, die die prominente Wagenkolonne oft benutzte, nicht mehr ertragen und ordnete an, einen Teil der Felder stillzulegen.

Die Klärung von Abwasser durch Verrieselung ist eine altbewährte Methode. Die Brühe wird über weite Felder geleitet und versickert langsam im Erdreich, wobei Mikroorganismen die Giftstoffe abbauen. Rund um Berlin begann die Verrieselung im Jahre 1873. Damals waren die Landschaften, die heute als „Speckgürtel“ bezeichnet werden, eher der Fäkaliengürtel der industriellen Boomtown Berlin. Die Stadt kaufte riesige Ländereien, um ihr Abwasser loszuwerden. Um 1925 wurden insgesamt 27.000 Hektar (270 Quadratkilometer) zur Berieselung genutzt. Das entspricht fast einem Drittel der Berliner Stadtfläche.

Was für Ingenieure lediglich eine technisch fortschrittliche Lösung des Abwasserproblems darstellte, markierte auch einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel: Bevor die Flächen ihrem profanen Zweck zugeführt wurden, waren sie nämlich größtenteils im Besitz von alten Adelsfamilien, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in Geldschwierigkeiten geraten waren. Die Sickerfelder von Großbeeren etwa gehörten seit dem 13. Jahrhundert dem Geschlecht derer von Berne. Wo einstmals preußische Junker zu Pferde ihre Rittergüter inspizierten, wurde am Ende des 19. Jahrhunderts die Scheiße aus den rasant wachsenden Arbeiterquartieren der Industriestadt Berlin entsorgt – der spätere Sieg des Sozialismus über den ostelbischen Großgrundbesitz wurde hier schon einmal vorweggenommen.

Heute noch erstrecken sich die Sickerflächen bei Großbeeren, soweit das Auge reicht. Das Land ist ordentlich eingeteilt in quadratische Beete mit einer Kantenlänge von etwa 50 Metern – jedes mit saftigem grünen Gras bewachsen und von niedrigen Erdwällen eingefaßt. Durch die ein Meter dicke Hauptleitung drückt das Wasser von Berlin ins Feld und wird zunächst in das Absetzbecken geleitet, wo der gröbste Schlamm nach unten sinkt. „Dann öffnen die Kollegen nach und nach die Schieber an den Rieseltafeln“, wie die Sickerbeete in der Fachsprache der Wasserwerker heißen, erklärt Leo Faustmann. Wenn die stinkende Brühe bis zu 40 Zentimeter hoch auf den Feldern steht, werden die Zuleitungen abgesperrt, und es dauert bei normal durchlässigem Boden vier oder fünf Stunden, bis das Wasser versickert.

„Ich lebe noch! Das ist doch alles Quatsch“, empört sich Klärwerker Faustmann. Die heftige Reaktion folgt auf die Frage, ob nach der jahrelangen Versickerung die Giftbelastung der Felder nicht enorm sei. Zu Kaisers Zeiten hat sich darüber niemand viele Gedanken gemacht – ganz im Gegenteil: Auch in der DDR wurden die Sickerbeete als landwirtschaftliche Anbauflächen genutzt. Faustmann: „Ich habe immer Kohl und Kartoffeln von den Feldern gegessen und trotzdem nie Gesundheitsprobleme gehabt.“ Dank der intensiven Düngung sprossen die Pflanzen schneller als anderswo. Bis zu sechsmal pro Jahr wurde Gras gemäht, um 1.000 Rinder der benachbarten Volkseigenen Güter mit Futter zu versorgen. Geradezu „gehauen haben sich Kleinsiedler um den trockenen Schlick aus dem Absetzbecken“, um Dünger für ihre Privatgärten zu bekommen, erinnert sich Faustmann.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Aus Gründen des Umweltschutzes gelten die Rieselfelder mittlerweile als auslaufendes Klärwerksmodell. Denn Schwermetalle aus dem Abwasser geraten ins Grundwasser, haben Untersuchungen ergeben. „Ein besonderes Problem stellen organische Schadstoffe wie Fluor, Chlor und Kohlenwasserstoffe dar“, erläutert Michael Thiele, der bei den Berliner Wasserbetrieben (BWB) für die Rieselfelder zuständig ist. Deren Funktion übernehmen mittlerweile Klärwerke mit aufwendigen Reinigungsverfahren, der Klärschlamm wird nicht mehr in der Landwirtschaft eingesetzt, sondern deponiert, verbrannt oder als Baumaterial im Straßenbau verwendet.

Von den einstmals riesigen Sickerflächen sind heute nur noch die erheblich verkleinerten Felder bei Großbeeren, Sputendorf, Wansdorf und Karolinenhöhe in Betrieb. Von letzterem abgesehen, sollen alle bis zum Jahr 2000 geschlossen werden. In Großbeeren wird bereits ausschließlich bei Regen verrieselt, weil dann die Schadstoffkonzentration im abfließenden Wasser geringer ist. Von Leo Faustmanns ehemals 31 Kollegen arbeiten nur noch wenige auf den Feldern.

Vor allem der Berliner Senat drängt wegen der Giftgefahr auf das Ende der alten Klärmethode – die Berliner Wasserbetriebe dagegen sind über diese Entscheidung nicht sehr glücklich. BWB-Mitarbeiter Thiele nennt einen entscheidenden Vorteil der Sickerflächen: „Sie tragen zur Neubildung von Grundwasser bei“ und schaffen so die Voraussetzung, daß rund um Berlin Trinkwasser in ausreichender Menge aus dem Untergrund gefördert werden kann. Bei den modernen Kläranlagen funktioniert dieser Wasserkreislauf nicht mehr. Das geklärte Wasser ist zwar sauberer, aber es fließt durch die Rohrsysteme sofort in den Teltowkanal oder die Havel und damit in Richtung Meer. „Dann ist es weg“, so Thiele. Über den sinkenden Grundwasserspiegel beklagt sich das Großbeeren benachbarte Wasserwerk Ludwigsfelde, seit die Rieselflächen verringert werden.

Auch seltene Tiere und Pflanzen, die seit Jahrzehnten auf den feuchten Wiesen leben, überstehen die Trockenlegung nicht. Zurück bleiben öde Brachflächen. Als Gegenbeispiel beschreibt Michael Thiele das Feld Karolinenhöhe, das aus Gründen der Landschaftspflege weiterbetrieben werden soll. „Sie müssen mal sehen, was es da alles für Vögel gibt“, schwärmt der Wasserwerker. Gerade Karolinenhöhe zeigt, wie die Schäden der Klärmethode vermieden, die positiven Effekte aber bewahrt werden können. Das Rieselfeld ist nämlich als vierte Reinigungsstufe einem konventionellen Klärwerk nachgeschaltet, so daß die Gifte zum großen Teil bereits aus dem Wasser entfernt sind, wenn es verrieselt wird. So bildet sich neues Grundwasser, und Pflanzen und Tiere behalten ihren Lebensraum, ohne daß die Umgebung Berlins mit Giftstoffen belastet wird.