■ Schäubles neue Offensive für den Grundwert „Familie“
: Ein Fall von Begriffsusurpation

In allen Ländern Westeuropas kämpfen Sozial- und Familienpolitiker, Kirche und Staat mit unterschiedlichen Waffen um höhere Geburtenraten – vergeblich. Mit Ausnahme Irlands sind die europäischen Nachbarn dem deutschen Vorbild gefolgt: die westeuropäische Durchschnittsfamilie hat durchschnittlich weniger als zwei Kinder, Tendenz immer noch sinkend. Sorgenkind Familie! Sie ist nicht nur kinderarm, sondern verliert, weil sie zerfällt, als Fundament von Staat und Gesellschaft ständig an Wert.

Das Bekenntnis zur Familie gehört zu den konservativen Kernbeständen. Der Union ist der Begriff in den letzten Jahren entglitten, unter anderem, weil zwischen Ideologie und Praxis der Regierungspartei eine peinliche Lücke klafft.

Mit dem ersten Kapitel seines neuen Buches („Und der Zukunft zugewandt“), das Focus im Vorabdruck veröffentlicht, unternimmt Wolfgang Schäuble den Versuch einer neuen Familien-Offensive. Er plädiert für einen ganz neuen Familienlastenausgleich; so soll neben das Ehegatten- ein Familiensplitting treten. Die Rente – was den Sozialpolitikern beider Volksparteien herzlich fremd ist – soll nicht nur nach dem Arbeitslohn, sondern auch danach bemessen werden, ob und wie viele Kinder großgezogen wurden. Endlich! läßt sich dazu nur sagen, denn die Forderung stammt aus den 50ern. Endlich spricht so der Fraktionsvorsitzende der größeren Regierungspartei, die das Familienurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1992 bislang genauso ignoriert hat wie alle anderen Parteien auch.

Um Sozialpolitik geht es dem christdemokratischen Spitzenpolitiker aber nur am Rande. „Im Thema Familie bündelt sich ein großer Teil dessen, was wir Grundwertedebatte nennen.“ Schäuble sucht via Familie nach mehr gesellschaftlicher „Gemeinschaftsbildung und -bindung“ und wohl auch nach identifikationsstiftendem Profil für die christliche Volkspartei. Das erste wäre wünschenswert, das zweite legitim. Was Staat und Gesellschaft im Innersten zusammenhält, auf freiwilliger, nicht verordneter Grundlage, sind natürlich auch „Gemeinschaftswerte“, die – was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr – in der Familie erprobt werden. Um die steht es in der Wohlstandsgesellschaft schlecht. „Das wirkliche Problem“, so ein ganz typischer Schäuble-Satz, „lautet nicht etwa, ob es noch verantwortlich ist, in der heutigen Welt Kinder zu bekommen, sondern ob der heute so weit ausgebreitete Lebensstil von Individualismus, Egoismus und Selbstverwirklichungsidealen die Menschen überhaupt noch dazu befähigt, die Aufgaben und Pflichten verantwortungsvoller Elternschaft zu erfüllen.“

Wer so anmaßend und haarscharf nur die halbe Wahrheit trifft, interessiert sich für die wirkliche Familie und ihre Rätsel zu wenig, als daß man ihm sein „unbedingtes Bekenntnis“ dazu abnehmen könnte. Unbestreitbar: Die Kinderarmut ist unheimlich, und die Auflösung der Familien- und anderer Bande macht gelegentlich frösteln. Doch auch die selbstverwirklichungsfreudigen Kinder der Wohlstandsgesellschaft gründen allenthalben Familien, und zwar ganz gerne. Und entgegen anderslautender Legenden ist auch die wachsende Kinderlosigkeit nur selten das Ergebnis freier, „egoistischer“ Entscheidung. Trotz der beeindruckenden Statistiken über Singles, Scheidungen und nichteheliche Gemeinschaften mit und ohne Kinder sind weder Ehe noch Familie tot. Sie sind nur „anders“ geworden, kommen zögerlicher und über Irrtümer zustande, bringen weniger Kinder hervor, versuchen neue Rollen und sind weniger abgegrenzt gegen den Rest der Gesellschaft. Sie sind, kurzum, ganz gewiß problematischer, aber keinesfalls schlechter als ihre historischen Vorgänger.

Und von den Vorgängern unterscheidet die heutige Familie nicht in erster Linie der gewachsene Abstand zur Institution Ehe oder ein radikaler Rollenbruch, sondern der Wegfall des Zwangs und der vorgegebenen Bahnen. Weil die Frauen zur Familienrolle nicht mehr ökonomisch gezwungen sind, Zeit und Zahl der Kinder selbst bestimmt werden können, müssen sich die beteiligten Erwachsenen für die Familie positiv entscheiden. Was heißt: Wo heute Familie ist, da ist sie gewollt, gewünscht, bejaht.

Daß die Leute heute weniger Kinder haben, gilt (nicht nur) Schäuble als sicherer Indikator für wachsende Selbstsucht und den sinkenden Wert von Gemeinschaftstugenden. Stimmt das? Ist dafür nicht auch das schlechte Vorbild der herkömmlichen Familie verantwortlich (aus denen wir kinderarmen Hedonisten samt und sonders kommen), weil in ihr nicht nur die schönen Gemeinschaftstugenden, sondern immer auch erzwungene Hierarchien und unbegründete Unterordnung (der Mutter unter den Vater, der Kinder unter die Eltern) herrschten? Die „freiwillige“ Familie, um Schäubles Pathos zu bemühen, lehrt vielleicht besser als die herkömmliche: „Gemeinschaft ist sogar die Voraussetzung und Bedingung für die Entfaltung und Freiheit des Einzelnen – und keineswegs deren Gegenkonzept.“

Doch die Familien von heute sollte man mit Pathos besser verschonen. Diese Institution, die sich nur darüber definiert, daß sie für Kinder und andere Schutzbedürftige sorgt, ist noch kein verläßlicher Hort. Dafür fehlt es ihr an Anerkennung und Schutz durch den Staat, durch die Gesellschaft, schließlich durch die Beteiligten selbst. Der Staat (und Schäuble) schützen als „auf Dauer angelegte Institution“ die durch Ehe legitimierte Familie, als entstünde nicht auch in der Ein-Eltern- oder nichtehelichen Familie durch die Kinder eine „auf Dauer angelegte“ Beziehung. Die Gesellschaft ist mit der demographischen Entwicklung nicht im Ansatz fertig geworden. Kinder und Jugendliche werden auf lange Sicht Minderheit und sind schon Randgruppen. Die sinkenden Kinderzahlen kann man betrauern, sie müssen offenbar aber auch akzeptiert werden, um endlich kulturelle Antworten zu finden. Den Beteiligten selbst, die heute Kinder erziehen (also den Nachkömmlingen der satten Wirtschaftswunderfamilien), fehlt das gefestigte Selbstvertrauen zu den eigenen Familienmodellen. Das kann auch nicht anders sein. Denn in Tradition und Vorbildern finden sie nur schwache Stützen. Die Erziehungsdebatten der letzten zwanzig Jahre illustrieren zudem lebhaft, daß diese Generation (die mit ihren Kindern alles besser machen will) in den Widersprüchen zwischen Anspruch und Wirklichkeit ganz besondere Orientierungsschwierigkeiten hat.

Kaum ein Thema ist so reizvoll und vernachlässigt wie die zerbrechliche und zukunftsträchtige Familie von heute. Doch Wolfgang Schäuble usurpiert bloß den Begriff. Seine „Familie“, die die sich auseinanderdifferenzierende Gesellschaft zusammenhalten und die der Staat besonders schützen soll, bleibt eine Chimäre, und gegen sein eigenes Dementi (es gibt „kein einfaches Zurück zur Normalfamilie“) bietet er nichts anderes an als eben deren Beschwörung. Tissy Bruns