Wen wählt man, wenn man geht?

■ Vier bis fünf Berliner werden im Europaparlament vertreten sein / Über Diäten und deutsche Interessen / Europaliste als Gnadenbrot / 24 Parteien treten in Berlin an

Rudolf Luster, Dagmar Roth- Behrendt und Birgit Cramon haben zwei Dinge gemeinsam. Sie sitzen seit fünf Jahren für Berlin im Europaparlament und keiner kennt sie. Die Entfernung zwischen großer Politik in Straßburg und dem Wahlvolk in Berlin ist groß. Aber das ist dem Europäischen Parlament, dem Bundestag, der Bundesregierung und der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland auch schon – rechtzeitig vor der Europawahl am 12. Juni – aufgefallen. Als „gemeinsame Initiative“ rufen sie zum „Wählen gehen!“ auf. Doch wen wählt man, wenn man geht?

24 Parteien treten in Berlin an und müssen bundesweit die Fünfprozenthürde überspringen. 99 der 567 Sessel im Sitzungssaal des Palais d'Europe in Straßburg sind für deutsche Abgeordnete reserviert, und je nach Wahlergebnis haben vier oder fünf Hauptstädter die Chance auf einen Sitz.

Die Berliner CDU erweckt mit ihrem Spitzenkandidaten den Eindruck, das Europäische Parlament mit einem Salzstock für schwer zu entsorgende Politiker zu verwechseln: Sie hat den 57jährigen Peter Kittelmann zum Spitzenkandidaten nominiert. Der Rechtsanwalt zählte einst mit dem Noch-Fraktionschef und Bankier Klaus Landowsky sowie dem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen zu den drei Mächtigen in der CDU. Doch angeschlagen vom Antes- Skandal kam er in Verruf und wurde innerparteilich demontiert.

Parteien, die ihre Poltiker aus Deutschland abschieben, brauchen bei den Betroffenen nicht mit Widerstand zu rechnen: Straßburger Platzbesetzer bekommen Bundestagsdiäten und ein zusätzliches Salär der Europäischen Union (EU) – rund 15.000 Mark. Ein Teil davon entfällt auf Büromiete, Telefon-, Fax- und Portokosten.

Der dreifache Familienvater spricht von „nationaler Erfahrung“, mit der er „deutsche Interessen“ vertreten will. Auf seiner Wahlwerbung ist der Spandauer im Gespräch mit Bundeskanzler Kohl zu sehen – und das Brandenburger Tor, dessen Restaurierung durch die EU mitfinanziert wurde. Er wolle sich, sagte er der taz, für EKO-Stahl, Ost-Werften und die Landwirtschaft einsetzen.

Inzwischen – und die Kontrolle darüber scheint Hauptaufgabe von Europaabgeordneten zu sein – hat die EU eine Menge Geld zu verteilen. In diesem Jahr warten EU- weit 130 Milliarden Mark aufs Abholen, 1,5 Milliarden Mark davon sind für Ostberlin bestimmt. Die Grüne Birgit Cramon hatte in der vergangenen fünfjährigen Legislaturperiode den Senat dann auch „ziemlich ärgern“ können – die Landesregierung hatte oft genug verpennt, Geldsäcke aus Brüssel anzufordern.

Birgit Cramon hatte sich besonders in der Sozialpolitik engagiert und wollte ihre Arbeit auch in der kommenden Legislaturperiode fortsetzen – nur gab sie ihre Unterschrift beim Wahlleiter zu spät ab. Mit der europäischen Fraktion der Grünen (28 Mitglieder) hat sie ein europaweites Netzwerk alternativer Wirtschaft gegründet. Besonders verärgert ist sie, weil die Bundesregierung gegen das 4. Armutsprogramm der EU überraschend Veto eingelegt hat. 240 Millionen Mark sollten bis 1999 in den 12 Mitgliedstaaten für Studien und Notprogramme ausgegeben werden. Mit dem Programm sei in der Vergangenheit Armut und die „Marginalisierung sozialen Ausschlusses“ sichtbar geworden, in Zukunft werde man darüber weniger erfahren.

Für Berlins Bündnis 90/Die Grünen kandidiert auf der Europaliste neben dem Bürgerrechtler und Bundestagsabgeordneten Wolfgang Ullmann auch Frieder Otto Wolf.

Dagmar Roth-Behrendt (41) ist die einzige der derzeitigen drei Berliner Europaabgeordneten, die wieder kandidiert. In ihrer Schulzeit pendelte sie zwischen Spanien und Deutschland. „Europa“, gestand sie einmal, „ist so ein Kindertraum von mir.“ Von europäischen Gesetzen – gerade in der Umweltpolitik – erzählt die Sozialdemokratin mit Begeisterung. Die Grenzwerte für Dioxin bei Müllverbrennungsanlagen oder die Qualitätsanforderungen an Trinkwasser seien durch europäische Initiativen höher als ursprünglich in Deutschland vorgeschrieben.

Roth-Behrendts Bundespartei bewegt sich allerdings nicht im Euro-Trend: Die Scharping-SPD hat im Programm zur Bundestagswahl Forderungen nach einer LKW- Abgabe, nach Tempolimit oder dem Staatsziel „Umweltschutz in die Verfassung“ gekippt. Zwar kennt man Bundespolitiker eher als Europaabgeordnete, aber sollte Bonn etwa noch weiter als Straßburg von Berlin entfernt sein? Dirk Wildt

Die Spitzenkandidaten der Berliner Parteien für das Europaparlament: Peter Kittelmann (CDU), Dagmar Roth-Behrendt (SPD), Wolfgang Ullmann (Bündnis 90/Die Grünen), Hans Modrow (PDS); die FDP stellt keine Berliner KandidatIn auf