: Der Hängematteneffekt
■ Zapp!, Zipp! und Hopp! - Eine marktpsychologische Studie über Medientypen
„Zapping“, das gezielte Vermeiden von Fernsehwerbung mit der Fernbedienung, ist seit Einführung des kommerziellen Fernsehens in Deutschland zum Alptraum der werbetreibenden Industrie und der Senderbosse geworden. Diese Methode der „Programmselektion“, die nach dem Geräusch der Straßenpistole in den amerikanischen Buck-Rogers- Comics benannt wurde („Zapp!“), ist aber nur eine von vielen Möglichkeiten, sich um die Fernsehwerbung zu drücken, mit denen die öffentlich-rechtlichen und privaten Sender ihr Programm zum Teil oder vollständig finanzieren.
Eine Studie, die H.-G. Niemeyer und J.M. Czycholl für den Hamburger Bauer-Verlag verfaßt haben, beschreibt eine ganze Reihe neuer „Medientypen“, die sich partout nicht von dem Wick- Rachendrachen oder dem Melitta- Mann mit „Werbebotschaften“ bombardieren lassen wollen: Dazu gehören außer den Zappern zum Beispiel die Zipper, die Flipper oder die Switcher.
Was die beiden Autoren beschreiben, ist nicht vollkommen neu. Obwohl die deutschen Fernsehsender versuchen, die Einschaltquoten schönzurechnen, ist schon länger bekannt, daß sich mindestens ein Drittel der FernsehzuschauerInnen aus dem Programm verabschieden, sobald der Werbeblock beginnt. Noch nie aber wurde so umfassend dargestellt, wie unberechenbar die Deutschen seit Einführung des kommerziellen Fernsehens geworden sind. Gestützt auf eigene Umfragen sowie auf deutsche und amerikanische Untersuchungen zeichnet die Studie ein Bild der bundesdeutschen TV-KonsumentInnen, das eigentlich nur die Frage offen läßt: Wer sieht eigentlich überhaupt noch konzentriert fern?
Gezappt wird aus zwei Gründen: Wenn der Fernsehende nicht zur gezielten Werbevermeidung zappt, will er aus den Programmen „selektieren“ oder seinen „Fernsehkonsum optimieren“, so die Studie. Die „Channel Hopper“ versuchen zum Beispiel, mehrere Programme gleichzeitig zu gucken. Laut einer US-amerikanischen Untersuchung sagen 25 Prozent der AmerikanerInnen, daß sie gleichzeitig mehrere Sendungen verfolgen können, 13 Prozent der Befragten konsumieren sogar drei und mehrere Programme nebeneinander. Auch in Deutschland nimmt diese Fernsehweise zu, besonders stark bei Leuten mit Kabel- oder Satellitenanschluß, und überproportional bei jungen, alleinstehenden Männern.
Als Sticker können dagegen laut Statistik vor allem Hausfrauen und Angestellte betrachtet werden. Sie sorgen für den sogenannten „Hängematten-Effekt“: Auch unpopuläre Programme werden gesehen, wenn sie zwischen attraktiven Sendungen „gesandwicht“ werden. Darum kann auch Alexander Kluge noch meßbare Einschaltquoten vorweisen, wenn er auf RTL in „10 vor 11“ zwischen „Der heiße Stuhl“ und einer Krimi-Serie eine halbe Stunde mit dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann über die „soziale Codierung der Liebe“ diskutiert.
Als Gründe für den Wandel im Glotzverhalten nennen Niemeyer und Czycholl neben Eskapismus vor allem Zeitökonomie: „Keine Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen, ist ein wichtiges Motiv, das Nebentätigkeiten beim Fernsehen schürt.“ Die Autoren erklären das manische Herumschalten mit einem zunehmenden „sozialen Informationsstreß“: Die ZuschauerInnen litten unter dem permanenten Druck, „etwas verpassen zu können, nicht mehr mitreden zu können, nicht up-to-date zu sein. Ein Programmwechsel kann also in der Angst begründet liegen, einen ,besseren Film‘ auf einem anderen Programm zu verpassen.“
Andererseits wird Fernsehen heute von vielen ZuschauerInnen als Marginalie betrachtet, so ähnlich wie schon seit Jahrzehnten das Radio, das beim Essen, Putzen oder Aufräumen vor sich hindudelt. Die Verknüpfung von Fernsehnutzung mit anderen Tätigkeiten kann sogar so eng sein, daß das eine ohne das andere nicht mehr möglich ist. „Wenn nichts Interessantes im Fernsehen läuft, dann bügele ich auch nicht“, hieß es in einem Interview, das die Autoren für ihre Studie führten.
Wird Fernsehen also ein Hochleistungssport oder ein „Bei-Medium“, das eigentlich niemand mehr so recht wahrnimmt? Beides stimmt. Die FernsehkonsumentInnen emanzipieren sich immer weiter von den klassischen TV-Verhaltensmustern, sie sind unberechenbar geworden: entweder abgelenkt oder immer auf dem Sprung zum nächsten Programm.
Ende der sechziger Jahre setzte sich das alte Ehepaar noch in Abendkleid und Anzug vor den Fernseher, wenn Kuli „Einer wird gewinnen“ moderierte. Diese Zeiten sind vorbei – der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner ZuschauerInnen wird sich in Zukunft kein Fernsehprogramm mehr sicher sein können. Tilman Baumgärtel
H.-G. Niemeyer & J.M. Czycholl: „Zapper, Sticker und andere Medientypen – Eine marktpsychologische Untersuchung zum selektiven Medienverhalten“. Schäffer- Poeschel Verlag, Stuttgart, ca. 98 DM (erscheint voraussichtlich im Juni 1994)
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