Die Westdeutschen laufen ins Messer

■ Ab Juli herrschen europäische Verhältnisse auf dem Versicherungsmarkt / Mogelpackungen befürchtet

In vier Wochen fügt sich ein weiterer Baustein in das Europa- Puzzle: Am 1. Juli treten die Vereinbarungen über den einheitlichen Europäischen Versicherungsmarkt in Kraft. Europäische Versicherungsunternehmen können dann in jedem europäischen Land ihre Policen verkaufen. Bislang war Deutschland für ausländische Firmen dieser Branche nur unter erschwerten Bedingungen erreichbar: Das Aufsichtsamt für das Versicherungswesen prüfte jedes einzelne Produkt hinsichtlich seiner Seriosität, bevor es am deutschen Markt vertrieben werden durfte. Diese Prüfung entfällt künftig. Verbraucherschützer fürchten ein Angebot von Mogelpackungen, die der einzelne nicht mehr durchschauen kann. Die taz sprach mit dem Geschäftsführer des Bundes der Versicherten, Hans Dieter Meyer.

taz: Ist der 1. Juli für das Versicherungswesen tatsächlich ein so bedeutsames Datum?

Hans Dieter Meyer: Für das Versicherungswesen ist es bedeutsam, doch die deutsche Versicherungswirtschaft bekommt Probleme. Vieles in der Branche deutet darauf hin, daß es gilt, ausländische Konkurrenz vom deutschen Markt fernzuhalten. Für den Verbraucher sind die erhofften Vorteile eines europäischen Versicherungsmarktes nicht so groß. Es wird eine Vielfalt an risikoreichen Angeboten geben. Die deutschen und ausländischen Unternehmen werden Mogelpackungen anbieten, die der einzelne Verbraucher gar nicht mehr erkennen kann.

Es ist doch nicht neu, daß ausländische Versicherer ihre Produkte am deutschen Markt anbieten. Wird der europäische Markt nicht etwas hochgespielt?

Sicherlich wird keine grundsätzlich neue Welt entstehen. Die Gesellschaften schweigen derzeit noch über ihre konkreten Absichten. Neu ist für Deutschland, daß das Aufsichtsamt für das Versicherungswesen die Angebote auf dem deutschen Markt nicht mehr überprüft, bevor sie zugelassen werden. Die Versicherer werden Möglichkeiten suchen, um sich von der Konkurrenz abzugrenzen. Es wird völlig neue Tarife geben, und Diskriminierungen nach Geschlecht, Ausbildung oder Nationalität sind nicht auszuschließen. Ab Juli fällt zum Beispiel in der Autohaftpflicht der Annahmezwang weg. Die Gesellschaften können Kunden ablehnen und müssen lediglich ein vom Tarif abweichendes Angebot machen. Das werden Abschreckungsprämien in astronomischer Höhe sein. Einige Überraschungen werden wir zwar noch in diesem Jahr erleben, aber insgesamt wird die Entwicklung drei bis fünf Jahre dauern. Das Problem für den Verbraucher ist, daß er in Zukunft Angebote eigentlich nicht mehr vergleichen kann, weil alle von anderen Voraussetzungen ausgehen.

In welchen Sparten sehen Sie denn noch besonders schwarz? Bei Lebensversicherungen zum Beispiel gibt es in vielen Ländern große Unterschiede aufgrund der verschiedenen Systeme bei den Sozialversicherungen.

Bei Lebensversicherungen sehe ich eher einen Lichtblick am Horizont, denn die Angebote im Ausland sind wesentlich transparenter. Man weiß, wieviel Geld man wofür bezahlt und welche Rendite man bekommt. Allerdings könnten in einigen Fällen für die Versicherten schutzfreie Zeiten eintreten: Es dauert eine Weile, etwaige Mißstände zu entdecken und den Gesellschaften unlautere Tarife zu verbieten. In Deutschland haben viele Unternehmen durch Knebelverträge mit zehnjähriger Laufzeit Vorsorge getroffen, daß sie ihre Kunden so schnell nicht verlieren. Auch bei den Lebensversicherungen haben wir Knebelverträge, weil man im Fall einer Kündigung in den ersten Jahren wesentlich weniger Geld zurückbekommen als eingezahlt wurde. Wer also auf ein unlauteres Angebot hereinfällt, kommt da nicht zwangsläufig sofort wieder heraus. Auch haben die deutschen Gesellschaften Tricks, ihren Kunden neue Verträge unterzujubeln. Die Allianz bietet ihren Kunden bei auslaufenden Verträgen einen um zehn Prozent höheren Versicherungschutz bei gleichbleibender Prämie. Viele Kunden beachten nicht die Klausel, daß sich der Vertrag dadurch um weitere zehn Jahre verlängert. Der Markt für ausländischer Versicherer ist also minimal, weil viele Verbraucher derzeit noch gar keine ausländischen Angebote annehmen können.

Wie bereiten sich denn die ausländischen Unternehmen auf den deutschen Markt vor?

Die bereiten sich schon lange vor. Mir hat ein französischer Verband geschrieben und nach den Chancen in Deutschland gefragt. Ich habe geantwortet, sie hätten tolle Chancen, denn deren Bedingungen sind wesentlich günstiger als in Deutschland. Aber ich mußte auch sagen, daß sie gegen eine Mauer von Zehn-Jahres-Verträgen laufen. Da winken die ab, weil der Aufwand für das Marketing zu hoch ist, wenn sie jedes Jahr nur zehn Prozent des deutschen Marktes erreichen.

Genießen deutsche Versicherer im Ausland soviel Vertrauen, daß sich für sie ein gigantischer neuer Markt auftut?

Die Deutschen haben sich im Ausland überwiegend in Unternehmen eingekauft und werden das Geschäft zunächst über diese Tochterunternehmen betreiben. Doch ich denke, daß prinzipiell das Privatgeschäft nicht so sehr von ausländischen Gesellschaften gemacht wird, egal ob nun die Deutschen dort oder andere hier auf den Markt gehen. Die Verbraucher werden sich zunächst an die Gesellschaften des eigenen Landes wenden.

Also wird es nicht so sein, daß ich am 1. Juli die Zeitungen aufschlage und plötzlich seitenweise Annoncen von Unternehmen sehe, die mir das Blaue vom Himmel herunter versichern?

Nein, nein. Den ersten Juli und auch das zweite Halbjahr '94 werden Sie als neue Ära des Versicherungswesens kaum bemerken. Es wird ein paar Neuerungen geben, aber die Verbraucher werden darauf kaum reagieren – aufgrund ihrer langfristigen Verträge zum Teil auch nicht reagieren können.

Die Ostdeutschen haben den Ansturm der Versicherer gerade hinter sich. Laufen bei den zu erwartenden Angeboten vor allem die Westdeutschen ins Messer?

Mit Sicherheit. Die Ostdeutschen sind tatsächlich sensibler geworden und haben in letzter Zeit viel weniger schlechte und überteuerte Versicherungen abgeschlossen als die Westdeutschen, weil viele von denen wiederum noch gar nicht wachgerüttelt sind, aber seit Jahren genauso legal betrogen werden und Geld verlieren.

Große deutsche Versicherer sind auf unqualifizierte Mitarbeiter angewiesen: Gestern Sozialarbeiter, drehen sie heute ihren Verwandten und Bekannten eine Police an. Begegne ich solchen Leuten künftig öfter?

Vermutlich ja. Ich habe gerade Unterlagen der Allianz gesehen, die eine „Spezialorganisation“ aufbaut nach dem Schema: „Nennen Sie mir fünf Adressen, bei denen ich eine Beratung machen kann.“ Die Gesellschaften werden diesen Vertriebsweg weiterhin massiv nutzen, denn dadurch können sie gute Geschäfte machen – wenn auch unsaubere. Sie schieben ihre Verantwortung immer weiter von sich weg. Deshalb unterstützen wir die Forderung, daß auch der sogenannte „Berater“, der eigentlich nur Verkäufer ist, für die Produkte haftet, die er verkauft.

Könnte das den Weg ebnen für ein neues Berufsbild des qualifizierten Maklers, dem man ebenso vertraut wie einem Steuerberater?

Auf jeden Fall. Doch machen die Einzelvertreter der Gesellschaften immerhin 90 Prozent des Geschäftes aus. Besser wäre es, wenn wir das englische System hätten: Dort haften Makler für schlechte Angebote. Der Makler kann auch einer Gesellschaft mit schlechten Konditionen mehr Druck machen, wenn er fürchten muß, haftbar gemacht zu werden. Der Bedarf ist auch bei uns vorhanden, nur läßt sich der Markt dafür schwer herstellen. Die Devise vieler Unternehmen in Deutschland ist: Der Vertrieb schlägt das bessere Produkt. Wenn sie nur den richtigen Vertreter losschicken, wird auch das Schlechte am Markt durchgesetzt. Man sollte das Prämiensystem durch das Beratungshonorar ersetzen, so daß der Vertreter Geld vom Kunden für eine qualifizierte Beratung verlangt. Aber das sieht der deutsche Verbraucher nicht ein, denn der Allianz-Vertreter liefert ihm ja scheinbar alles kostenlos. Würde ein Vertreter gezwungen, auf der Police die Höhe seiner Provision zu nennen, wüßte der Kunde sofort, daß er mit seinen Beiträgen auch den Vertreter bezahlt.

Aber es gibt doch nicht nur unseriöse Berater.

Nein, es gibt durchaus seriöse Versicherungs-Dienstleister, aber deren Größenordnung liegt bei etwa fünf Prozent. Dazu zählen zum Beispiel der Verband der verbraucherorientierten Vermittler oder die Büros der „Fairsicherungsläden“.

Sie kritisieren, daß der neue Markt nicht zu einer grundlegenden Reform des nationalen Versicherungsrechts geführt habe. Was wurde denn versäumt?

Man hätte die Informationspflicht ausweiten müssen, damit der Kunde über die Tragweite seiner Verträge genauer Bescheid weiß. Ein weiterer Punkt ist ein allgemeines Rücktrittsrecht sowie ein jährliches Kündigungsrecht – von den Franzosen im übrigen erfolgreich praktiziert.

Dagegen wehren sich die deutschen Unternehmen mit der Begründung, sie müßten langfristig kalkulieren. Zehn-Jahres-Verträge sind also...

...völliger Unsinn. Eine Umfrage in Amerika ergab: Die Verweildauer der Versicherten bei einer Gesellschaft beträgt zwischen sieben und 17 Jahren – und dort kann man sogar täglich kündigen. Bei vernünftigen Konditionen braucht man keinen Zehn-Jahres- Vertrag. VHV, HDI oder DeBeKa machen einjährige Verträge – denen laufen die Kunden nicht weg. Warum sollten sie auch? Eine Versicherung will man langfristig haben. Man sollte nur nicht an teure Prämien gebunden sein.

Sie sehen also überall die geifernden Giganten, die die armen zitternden Kunden auffressen wollen. Halten Sie denn die Verbraucher für so beschränkt, daß überhaupt keiner mehr erkennen kann, was er an Versicherungen braucht?

Ich denke vielmehr, daß die deutschen Versicherer zitternd dastehen, denn wenn ihre Privilegien fallen, geht es denen ganz schön dreckig. Dann müssen die sich überlegen, faire Bedingungen einzuführen. Die Verbraucher in Deutschland zittern mit Sicherheit nicht, weil die sich um ihre Versicherungen nicht kümmern. Das ist das große Problem. Würden sie sich besser informieren, würden sie auch nicht so oft über den Tisch gezogen. Interview: Andreas Lohse